Samstagnachmittag um vier ist die Welt im GP-Fahrerlager noch in Ordnung. Die Startpositionen stehen zwar fest. Aber noch ist nichts verloren. Die «Asphalt-Cowboys» werden von den Chronisten nach den Aussichten fürs sonntägliche Rennen befragt. So ist es bei jedem GP. Sozusagen ein Ritual.
Tom Lüthi ist gut gelaunt. Platz 2. Erste Startreihe. Die Bestzeit hat er nur um 21 Tausendstel einer Sekunde verpasst. Ein Wimpernschlag.
Der Medientermin nach vollbrachten Trainings ist im Team des Batterien-Herstellers «Dynavolt» eine spartanische Sache. Die Deutschen sind seit sechs Jahren im Moto2-Geschäft. Alles hat hier seine Ordnung. Sein statt Schein. Tom Lüthis Manager Daniel M. Epp sagt es oft: «Es ist das beste Team.»
Aber das sieht ein neutraler Beobachter nicht. Tom Lüthi sitzt hinter der Box neben dem Truck auf dem Roller. Noch im Kombi. Um ihn herum stehen die Chronisten. Er redet, wie ein Fahrer eben nach einem guten Training spricht: ein Lob für das Team, das einmal mehr hervorragend gearbeitet habe. Er fühle sich sehr gut. Sein Selbstvertrauen ist intakt. Er fährt um den WM-Titel. Lorenzo Baldassarri (88 Punkte), Alex Marquez (86 Punkte), Tom Lüthi (84) und Jorge Navarro (73) liegen nur 15 Punkten auseinander.
Für einmal erlaubt sich der Emmentaler sogar einen kleinen Scherz. «Nach einem so guten Training darf ich am Abend länger ausgehen…» Schaut sich um, sieht die ernsthaften Gesichter und präzisiert sicherheitshalber: «Das war jetzt aber ein Scherz.» Nicht, dass noch jemand in die Welt setzt, Tom Lüthi mache in der Nacht vor dem Rennen Party. Das wäre so falsch wie die Meldung über eine Swingerparty im Vatikan. Aber eben: es ist ein Medientermin ohne Glanz & Gloria. Wer nur zuschaut, der denkt als neutraler Beobachter: das ist wohl ein Hinterherfahrer.
Zehn Minuten später folgt im Fahrerlager der Interview-Lokaltermin bei Dominique Aegerter. Er fährt für MV Agusta. Für die auf diese Saison wiedererweckte italienische Kultmarke.
Es geht einfach nicht so recht vorwärts. Wieder nur die 7. Startreihe (21.). Besser war man im Training noch nie. Das höchste aller Gefühle werden im Rennen ein paar WM-Punkte (für Rangierungen in den ersten 15) sein.
Wenn es schon nicht für Spitzenplätze reicht, dann muss wenigstens der äussere Rahmen stimmen. Dafür haben die Italiener viel mehr Talent als die Deutschen. Der samstägliche Medien-Pflichttermin wird nicht stehend hinter der Box abgehalten. Sondern sitzend und bequem im schönen, grossen Hospitality-Schloss. Es ist so gross und prächtig wie die Fahrerlager-Residenzen der millionenschweren MotoGP-Teams. Getränke werden gereicht.
Dominique Aegerter sitzt frisch gebürstet und gekämmt im schmucken Hemd mit den bunten Sponsorenlogos am Tisch. Im Hintergrund eine Wand mit allen Logos der Geldgeber. Neben ihm sein Manager Oliver Imfeld, der Luzerner SVP-Politiker, der einst DJ Bobo gross gemacht hat. Und im Hintergrund passt Teamchefin Milena Körner auf, dass ihrem Fahrer ja kein falsches Wort rausrutscht.
Dominique Aegerter ist heute folgsam und hat sein Verslein gut gelernt. Er mahnt die Chronisten daran – wie jedes Mal – es handle sich eben um ein neues Projekt und alles brauche seine Zeit. Aber man mache Fortschritte und habe erneut vieles probiert und gelernt. Es gehe in die richtige Richtung. Der Trainingssturz am Freitag sei glimpflich verlaufen. Die neue Verschalung sei super. Man habe jetzt bäumige Werte bei den Topspeed-Messungen. Tatsächlich ist die MV Agusta nicht mehr die lahmste Ente der Moto2-Klasse. Aber eben: vorwärts geht es trotzdem nicht recht.
Es ist grandios zelebrierte Professionalität. Dafür haben die Lateiner einfach ein Flair. Sozusagen eine «Opera buffa» des Töffrennsportes.
Der neutrale Beobachter, der nur auf den äusseren Rahmen achtet, denkt: Wow! Dominique Aegerter muss ein Titelanwärter sein! Aegerter vorne! Lüthi hinten!
Es ist wie im richtigen Leben. Der Schein kann trügen. MV Agusta ist das wunderbare potemkinsche Dorf des Fahrerlagers. Potemkinsches Dorf? Ja, so ist es. Einst liess Fürst Grigori Potemkin entlang der Wolga Pappdörfer aufstellen. Um seiner Zarin - Katharina die Grosse - blühende Landschaften vorzugaukeln. Sie fiel darauf herein und der Fürst wurde ihr Liebhaber.