Motorsport besteht offiziell aus einem schier unerschöpflichen Fundus von Ausreden technischer Art. Mal sind es die Reifen, mal das Getriebe, mal die Fahrwerksabstimmung oder die Zündung, die noch schnellere Zeiten verhindert haben. Aber eben: Sehr viel passiert auch im Kopf. Ein sehr grosser Teil der technischen Analysen sind nichts weiter als «Voodoo».
Sehr oft wissen die Jungs nicht genau, warum sie gewonnen haben. Und auch nicht, warum sie nicht mehr gewinnen. Erst recht in einer so extrem ausgeglichenen Rennklasse wie der Moto2-WM – hier fahren alle die gleichen Motoren und die gleichen Reifen. Und wer ins Grübeln gerät, hat gar keine Chance mehr.
Für Dominique Aegerter hat der GP auf dem Sachsenring eine ganz besondere Bedeutung. Er hat hier vor einem Jahr aus der Pole Position heraus seinen ersten GP gewonnen. Diesen Erfolg hat er bisher nicht wiederholen können. Und die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass er hier im Rennen eine Niederlage hinnehmen muss. Als 13. des Abschlusstrainings muss er aus der 5. Reihe losfahren. Teamkollege Tom Lüthi hat es auf Rang 4 immerhin in die 2. Reihe geschafft.
Er weiss sehr wohl, wie schwierig es ist, den letztjährigen Sommernachtstraum mit dem Sieg auf dem Sachsenring zu wiederholen. Sein Selbstvertrauen ist nach wie vor intakt. Auf die Frage, was der Unterschied zwischen dem Dominique Aegerter von 2014 und dem Dominique Aegerter von 2015 sei, sagt er mit unüberhörbarer Selbstironie: «Dass er 2014 aus der Pole Position gestartet ist und dass er jetzt das Rennen in der 5. Reihe beginnen muss …»
Auf die Frage, warum das so ist, weiss er hingegen keine Antwort. «Wir bringen einfach die Einstellung nicht hin.» Immerhin versichert er glaubhaft, dass er das sichere Gefühl hat, fahrerisch nicht nachgelassen zu haben.
Eine Niederlage wird beim «Voodoo» der Krisenbewältigung eine Rolle spielen. Die Hoffnung, dass auf dem Sachsenring, der Stätte des bisher einzigen Triumphes, die Rückkehr auf den Gipfel des Ruhmes gelingen könnte, war berechtigt. Aber jetzt droht diese Magie zu verblassen und wenn Dominique Aegerter sieglos heimreist (bzw. zum Achtstunden-Rennen nach Japan fliegt), dann beginnt langsam aber sicher der Kampf gegen den «Fluch der Eintagsfliegen».
Auf dem Planeten Töff gibt es drei Kategorien von Fahrern. Jene, die noch nie gewonnen, jene die nur einen und jene, die mehrere GP gewonnen haben. Siegen ist schwierig genug. Aber noch viel schwieriger ist es, mehrere Rennen zu gewinnen. Seit Einführung der WM (1949) haben 243 Fahrer mehrere GP gewonnen – aber sage und schreibe 97 nur einen einzigen. Unter diesen «Eintagsfliegen» finden wir auch die Schweizer Michel Frutschi, Roland Freymond, Ulrich Graf, Gyula Marsowski – und eben Dominique Aegerter.
Hin und wieder profitiert ein Pilot von ganz besonderen Umständen und gewinnt ein Rennen. Weil diese Umstände einmalig bleiben, gewinnt er nachher nicht mehr. Michel Frutschi profitierte beispielsweise vom Streik der Stars in Nogaro. Fausto Ricci und Alan Carter triumphierten in ihrem allerersten GP als völlige Aussenseiter, die von den Stars unterschätzt worden waren. Carter gewann 1983 in Le Mans nur, weil ihn Jacques Cornu für einen überrundeten Fahrer hielt und ihn in der letzten Runde des 250er-Rennens kurz vor dem Ziel nicht mehr überholte.
Andere wechselten in höhere Kategorien, wo Siege nicht mehr möglich waren. Und darüber hinaus gibt es die Tragik jener Piloten, die bald nach ihrem ersten GP-Sieg ihr Leben verloren haben – wie Ulrich Graf oder Dominique Shoya Tomizawa, 2010 Dominique Aegerters Teamkollege.
Dominique Aegerter gehört in keine dieser Kategorien. Er gewann auf dem Sachsenring vor einem Jahr nicht als völliger Aussenseiter, der die Favoriten überraschte. Sondern als Fahrer, der sich über Jahre hinweg an die Weltspitze gearbeitet hatte. Er siegte auch nicht dank besonderen Umständen und er fährt nach wie vor in der gleichen Kategorie, in der er seinen ersten GP gewonnen hat. Also beste Voraussetzungen, um den «Fluch der Eintagsfliegen» zu brechen und sich unter jene 243 Piloten einzureihen, die mehr als nur einen GP gewonnen haben.
Tom Lüthi ist dieses Künststück übrigens schnell gelungen. Er gewann 2005 in Le Mans seinen ersten GP und sechs Rennen später feierte er beim GP von Tschechien bereits den zweiten von heute insgesamt zehn GP-Siegen. Zehn GP-Siege – das ist auch für den vier Jahre jüngeren Dominique Aegerter möglich. Aber eben: Erst muss er den «Fluch der Eintagsfliege» überwinden.
PS: Giacomo Agostini ist mit 122 GP-Triumphen nach wie vor Rekordhalter. Vor Valentino Rossi (111 GP-Siege). Schweizer Rekordhalter ist Luigi Taveri (30 Siege).