Ein paar Monate haben alles verändert. Im Februar dominiert Tom Lüthi die Vorsaisontests in Jerez nach Belieben. Er gilt als Titelanwärter. Und sein Freund und Manager Daniel Epp steht vor einem ruhigen Sommer: die Verlängerung des Vertrages beim Team des Deutschen Batterie-Herstellers Dynavolt ist nur eine Formsache. «Wir sind uns mündlich einig» sagt Epp zu diesem Zeitpunkt. Man werde wohl im August die Verträge unterzeichnen und offizialisieren. Eine der wenigen offenen Fragen: eine Verlängerung um ein oder vielleicht gar zwei Jahre, bis und mit der Saison 2022? Tom Lüthi tendiert zu zwei Jahren. Und wer weiss: wenn er um den Titel fährt, sind auch noch bessere finanzielle Konditionen möglich.
Inzwischen ist die Virus-Krise über die Welt gekommen. Sie spielt in diesem besonderen Fall keine zentrale Rolle. Sie ist eher eine dramatische Theaterkulisse. Nach einer Zwangspause von gut vier Monaten geht der GP-Zirkus inzwischen als globales TV-Spektakel weiter. In Misano soeben zum ersten Mal vor Publikum an der Rennstrecke. 10'000 Zuschauerinnen und Zuschauer durften anreisen. 100'000 sind es in «normalen Zeiten».
Tom Lüthis Situation hat sich seit dem Frühjahr dramatisch verändert. In der Moto2-WM gibt es zwei Kategorien von Piloten: solche die bezahlt werden und solche die bezahlen müssen. Höchstens zehn oder zwölf der 30 Vertragsfahrer werden von ihren Teams ordentlich bezahlt. Weil sie so gut sind, dass sie Siege und Ruhm garantieren, für Medienpräsenz sorgen und die Attraktivität für Werbepartner erhöhen. Die Besten kassieren von ihren Teams mit Grundlohn, Prämien und persönlichen Werbeflächen, die sie auf Helm, Kombi und Verschalung selbst vermarkten dürfen, bis zu einer Million pro Saison. Bis und mit 2020 gehört Tom Lüthi zu dieser privilegierten Kaste.
Die anderen sind «Bezahlfahrer». Sie müssen Geld in die Teamkasse bringen, um fahren zu dürfen und einen Platz im GP-Zirkus zu haben. Die Einkaufssumme beträgt 300'000 bis 600'000 Franken. Das Team stellt dafür die gesamte Infrastruktur (Maschine, Techniker) zur Verfügung, kommt für die Spesen (Reisen, Unterkunft) auf, gewährt eine Erfolgsprämie und überlässt dem Fahrer Werbeflächen auf Helm, Kombi und Verschalung. Mit etwas Glück kann der Manager für seinen Piloten bei persönlichen Sponsoren mehr Geld herausholen als er in die Teamkasse einzahlen muss. Das war Dominique Aegerter (29) diese Saison nicht mehr möglich. Deshalb hat er seinen Platz in der Moto2-WM aufgegeben.
#SanMarinoGP third #MotoE race of the season just finished on the podium again: P3 +0.372 thanks to an excellent last lap move. #DA77 with @IntactGP at @circuitomisano @kissmisano pic.twitter.com/SBr4cIDWXH
— Dominique Aegerter (@DomiAegerter77) September 13, 2020
Nun ist Tom Lüthi nach der enttäuschenden ersten Saisonphase an einem entscheidenden Punkt seiner Karriere angelangt. Der neue Vertrag mit seinem Team ist noch nicht in trockenen Tüchern. Der Rückstand auf die «Marschtabelle» beträgt bereits gut vier Wochen. Deshalb reagiert Daniel Epp leicht gereizt auf entsprechende Fragen, warum die Verlängerung noch nicht offiziell verkündet worden ist: «Wir sind in intensiven Verhandlungen. Bis Ende September sollten wir einen Entscheid haben.» Worüber wird verhandelt? «Es geht um Details.» Um welche Details, die so intensive Verhandlungen notwendig machen? «Dazu gebe ich keine Auskunft». Nun, es geht um die Details «Personal» und «Geld».
Im Februar waren Tom Lüthi und sein Manager noch in der Lage, Geld zu fordern und bei der Teamzusammenstellung mitzureden. In den drei letzten Rennen ist zwar eine Stabilisierung gelungen (5., 7., 6). Aber um Sieg und Podest konnte der Emmentaler diese Saison noch nie fahren und den Kampf um den WM-Titel hat er schon verloren. Eigentlich müsste er mit diesen Resultaten Geld bringen und sein Manager kann nur mit viel Diplomatie bei der Personalpolitik des Teams mitreden. Denn ein Austausch des Cheftechnikers wäre das Eingeständnis, dass das Team für den enttäuschenden Saisonstart verantwortlich ist.
Für sein Deutsches Team hat Tom Lüthi nur als Sieg- und Podestfahrer Werbewert. Also geht es jetzt in intensiven Verhandlungen um den Preis für die Vertragsverlängerung. Teamchef Jürgen Lingg kann so gut rechnen wie Daniel Epp. Wie in jedem Geschäft geht es um Angebot und Nachfrage. Was Tom Lüthi entgegenkommt: es gibt nach wie vor keinen besseren deutschsprachigen Piloten. Sein Teamkollege Marcel Schrötter ist nach dem Sturz in Misano im Gesamtklassement (13.) hinter Tom Lüthi (10.) zurückgefallen.
Hat Tom Lüthi Alternativen? Die Frage geht an Daniel Epp: sehen Sie sich nach anderen Teams um? «Ich bin ständig mit verschiedensten Teams in Kontakt. Aber nicht intensiver als sonst. Die Pflege dieser Kontakte gehört zum Geschäft.» Gäbe es also Alternativen, wenn es nicht zu einer Verlängerung mit dem aktuellen Team kommen sollte? «Dazu kann ich nichts sagen.» Natürlich gibt es Alternativen. Aber nur bei Teams, die Geld verlangen.
Tom Lüthi ist am 6. September 34 geworden und nicht zu alt, um ein Spitzenfahrer zu sein. Er ist nach wie vor hochmotiviert und topfit. Als Musterprofi lässt er sich nicht zu Schuldzuweisungen hinreissen und sein Optimismus ist unerschütterlich. Sein Talent und sein Kampfgeist stehen nicht zur Debatte. Er will seine Karriere fortsetzen. Um in der Superbike-WM oder – wie Dominique Aegerter – auf den Batterie-Töffs und als Test- und Ersatzpilot ein gut belegtes «Karriere-Gnadenbrot» zu verzehren ist er immer noch viel zu gut.
Tom Lüthi kann und wird seine Karriere in der zweitwichtigsten WM fortsetzen. Die Frage ist nur: zu welchem Preis? Weiterhin als bezahlter Fahrer oder als Bezahlfahrer?
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