Zum «Mythos Assen» – dem einzigen Töff-Spektakel, das seit WM-Beginn (1949) jedes Jahr und am gleichen Datum (letztes Juni-Wochenende) ausgetragen wird – gehört ein ungeschriebenes Gesetz: Wer Assen als WM-Leader verlässt, wird Weltmeister.
Tom Lüthi (32) verlässt Assen nicht als Sieger. Er ist im Moto2-Rennen «nur» auf Patz vier gefahren. Aber er verlässt Assen als WM-Leader.
Es war nicht einfach ein Rennen. Es war ein Drama. Noch nie seit Beginn der Moto2-WM (2010) sind so viele Titanen gestürzt. Fünf der ersten zehn des Gesamtklassements inklusive WM-Leader Alex Marquez sind aus den Sätteln geflogen.
Tom Lüthi übernimmt nach dem Vierten Rang beim #AssenGp die WM-Führung! Doch beinahe wäre Lüthi ebenfalls Opfer eines Sturzes geworden – das war knapp! #Moto2 #srfGP pic.twitter.com/HrIDwYRPHv
— SRF Sport (@srfsport) 30. Juni 2019
So viele Unfälle gibt es eigentlich nur bei regennasser Piste. Diesmal war es etwas ganz anderes. Die Pferde sind in der Hitze unter der Sonne und des «Gefechtes» durchgebrannt. Weil keiner im Training die perfekte Abstimmung gefunden hatte, waren alle angespannt und nervös. Keiner cool und selbstsicher.
Und so ist es kein Wunder, dass im Rennen viele zu oft das Limit überschritten haben. Dass sich die Helden gegenseitig von der Maschine geholt haben. Am spektakulärsten Lorenzo Baldassarri. Er reisst in der drittletzten Runde im Kampf um den Sieg Alex Marquez mit ins Kiesbett.
Der spanische WM-Leader hatte bis zu diesem Zeitpunkt alles richtig gemacht. Nach verhaltenem Beginn brauste er sechs Runden vor Schluss an die Spitze. Tom Lüthi war im Feld der Verfolger eingeklemmt. Seine Titelträume schienen drei Runden vor Schluss nur noch theoretischer Natur. Wäre es so geblieben, hätte Alex Marquez im Gesamtklassement mehr als 15 Punkte Vorsprung gehabt. Nun hat er 6 Punkte Rückstand auf seinen ärgsten Konkurrenten. Er und Tom Lüthi werden den Titel unter sich ausmachen.
Assen zeigt uns, wie der Berner Weltmeister werden kann. Cool bleiben, wenn die anderen durchdrehen. Tom Lüthi, mit 32 der älteste, erfahrenste, taktisch schlauste Fuchs inmitten einer verrückten Meute. Alle anderen Titel- und Sieganwärter sind neun oder mehr Jahre jünger.
Haben wir in Assen die Geburt eines Champions erlebt? Das Fragezeichen müssen wir stehenlassen. Nach wie vor sind elf Rennen zu fahren.
Aber immer mehr zeichnet sich ab: Ja, es ist möglich. Der «Big Bang», der überzeugende Sieg, der Alex Marquez verunsichern könnte, ist nicht zu realisieren. Tom Lüthi muss auf die leise, die sanfte Art Weltmeister werden. Indem er weniger Fehler macht als die anderen.
Der Eindruck, Tom Lüthi sei in Assen auf Abwarten gefahren, ist allerdings völlig falsch. Das Rennen war auch für ihn ein Drama sondergleichen. Auch er war am Limit und einige Male darüber hinaus. Wenn wir genau hinsehen, ist der vierte Platz nicht primär das Resultat kluger Taktik. Sondern eines tapferen «Überlebenskampfes». Das wird spätestens nach dem Rennen klar.
Wenn die Gladiatoren den Helm vom Kopf genommen haben, um Rede und Antwort zu stehen, öffnen sie jeweils auch ein wenig ihre Rennfahrerseele. Noch vollgepumpt mit Adrenalin und am Rande der Erschöpfung.
Tom Lüthi verlangt nach einem Handtuch, wischt den Schweiss ab und wirkt für sein sanftes Wesen beinahe grimmig. Er schildert die wilde Fahrt zum vierten Platz. Wie mehrmals der erste Gang rausgesprungen ist (Assen gehört zu den wenigen Strecken, auf denen der erste Gang gebraucht wird). Den bangen Moment, als er über die Maschine des gestürzten Xavier Vierge holperte.
«Es gab einen gewaltigen Knall und ich befürchtete schon, dass die Vorderradbremse nicht mehr funktioniert.» Aber die Fahrtüchtigkeit seiner Höllenmaschine wird nicht beeinträchtigt. Und dann sagt er grimmig. «Einige Herren verlieren den Kopf und können nicht einmal über die nächste Kurve hinausdenken.»
Und dann, nachdem er alles erzählt hat, was es zum Rennen zu erzählen gibt, hält er inne und sagt mit einer Bestimmtheit, die keine Zweifel lässt, dass ihm das wichtig ist: «Niemand kann mir vorwerfen, ich hätte nicht gekämpft.»
Weil er kein «verrückter Hund» ist, weil er über die nächste Kurve hinausdenkt, weil er deshalb wohl ein paar Siege vergeben hat, muss Tom Lüthi ab und an in einer Szene, in die harte Männlichkeit geradezu kultiviert wird, den Vorwurf hören, er sei draussen auf der Piste, beim Showdown der Gladiatoren zu weich. Dazu würde ja passen, dass er «nur» auf Platz vier gefahren ist und vom heldenhaften Untergang seiner Gegner profitiert hat.
Nichts wäre falscher als diese Analyse. Er fuhr am Limit. Wie alle anderen auch. Er hat gelitten. Wie alle anderen auch. Aber er, der Älteste, Erfahrenste, taktisch Smarteste, ist in einem Rennen, in dem er alle Titelträume hätte verlieren können, durchgekommen. Das ist kein Zufall.
Deshalb ist die Frage berechtigt: War Assen die Geburtsstunde eines neuen Champions?