Sie haben den Ruf der Premier League diskreditiert: Diese Fernsehverträge, die Geld bringen, so richtig viel davon. Auf der Insel regieren Checks, die Moral erweist sich längst nur noch als «nice to have».
Den Fussball-Romantikern bleibt nur ein Seufzen. Ihre Sehnsucht nach Märchen ist gross. Märchen, die eben nur der Fussball schreiben kann. Ungeachtet jeglicher monetärer Einflüsse.
Ein solches ist die Geschichte von Jamie Vardy. 28-jährig ist der Brite heute, im besten Fussballeralter und beim letztjährigen Aufsteiger Leicester City unter Vertrag.
Dass dieser vermeintliche Routinier im britischen Blätterwald gegenwärtig als Newcomer des Jahres gerühmt wird, mutet irgendwie seltsam an.
Dabei figuriert dieser aussergewöhnliche Fussballer doch bereits seit etwas mehr als 14 Monaten auf der grossen Premier-League-Bühne. Fünf Tore und zehn Assists notieren die Statistiker in seiner Debüt-Saison.
Ein ordentlicher Wert für einen frisch Aufgestiegenen. Im Sommer 2015 ereignet sich aber etwas, das man so nicht erwarten durfte: die Spätzündung des Jamie Vardy.
Zwölf Partien bestritt der Stürmer für die famos gestarteten «Füchse» aus Leicester. Mit seinen zwölf Treffern hievt er sie auf Rang drei. Wenn einer seiner Schussversuche sitzt, dann bündelt Vardy ebenso viel Energie in den Jubel, wie er zuvor für den Torabschluss benötigt hatte.
Jeder Treffer gleicht für ihn noch immer einem Traum, seine Erfolgsquote ist es längst. Denn mit dieser imitiert er Weltklasse-Stürmer wie Bayerns Robert Lewandowski oder Barcelonas Neymar.
Auch deshalb sagte er kürzlich: «Ich muss mich jeden Morgen noch zwicken, wenn ich zum Training fahre. Ich kann es einfach nicht glauben.»
In jedem der letzten neun Einsätze skorte der 28-Jährige. Ein weiteres Tor fehlt ihm, um Ruud van Nistelrooys Rekord von zehn Ligatoren in Serie zu egalisieren.
Es wäre ein weiterer Höhepunkt dieses kitschigen Märchens, welches 2003 seinen Anfang nahm. Damals, als sich die physischen Defizite des zierlichen Jamies noch als Stolperstein für eine Fussballerkarriere erwiesen.
Die Jugendakademie von Sheffield Wednesday verzichtet auf Vardys Dienste. Ein Schlag ins Gesicht. Er schuftet in einer Kohlefaser-Fabrik. Als Ausgleich kickt der Schichtarbeiter für den Amateurverein Stocksbridge Park Steels. Achte englische Liga.
Stocksbridge Vereinsboss Allen Bethel ringt mit einem aufdringlichen, anmassenden, aber talentierten Jungen. Fussball ist aber längst nicht mehr alles für den jungen Vardy.
Im Sommer 2007 gerät dieser in eine Pub-Keilerei. Ihm werden eine Ausgangssperre und die Tragepflicht einer elektronischen Fussfessel auferlegt. Das hält ihn nicht davon ab, weiter zu kicken. Um die Bewährungsauflagen nicht zu verletzen, muss er sich aber jeweils früh auswechseln lassen. «Sonst wäre ich nicht vor meiner Ausgangssperre daheim gewesen.»
Diese Erfahrungen prägen ihn, der Stürmer wird reifer. Das schlägt sich auch in seinen Leistungen auf dem Rasen nieder: Der Schichtarbeiter produziert Tore am Fliessband.
Scouts horchen auf und bald lässt sich Vardy zu Ligakonkurrent Halifax Town transferieren. Die Tormaschine läuft auch da auf Hochtouren. Mit 24 Jahren ist Vardy in der fünften Liga angelangt, das Logo von Fleedwood Town ziert nun seine Brust. Seine Torpotenz nimmt auch drei Ligen höher nicht ab. Bald klopft der damalige Zweitligist Leicester City an.
Der Traum, den Sprung ins Profigeschäft doch noch zu schaffen, ist ganz nah. Vardy sagt zu. Fleedwood kassiert rund eine Million Pfund plus Bonuszahlungen, eine Rekordablöse im britischen Amateurfussball.
Doch von nun an stagniert Vardys Tellerwäscher-Karriere. Die Akklimatisierung im Herzen Englands fällt schwer.
Die erste Saison bei den «Füchsen» verläuft enttäuschend. Sogar Rücktrittsgedanken sollen Vardy beschäftigt haben. Ex-Teammanager Nigel Pearson spricht dem 25-Jährigen Mut zu. Vardy nimmt einen neuen Anlauf. Wieder mal.
Und wieder mal folgt die Auferstehung dieses kantigen Stürmers. Mit 16 Toren in der darauffolgenden Spielzeit schiesst er Leicester praktisch im Alleingang in die Premier League. Es ist der Anfang des Newcomers.
Trainer Claudio Ranieri attestiert ihm längst das Potenzial zum Weltklasse-Stürmer. Dass der leidenschaftliche Gambler letzten Sommer in einem Casino einen Japaner beschimpft haben soll, unterstreicht sein zänkisches Abbild.
Trotz allem ist Vardy längst das Gesicht Leicesters. Unermüdlich, kraftvoll und zermürbend, so lässt sich sein Spielstil beschreiben. Attribute, die auch im Nationalteam gefragt sind.
Vier Partien absolvierte Vardy bislang für die «Three Lions». Behutsam soll er nun integriert werden – auch im Hinblick auf die Europameisterschaften im Sommer.
Sollte seine Torpotenz anhalten, spricht einiges dafür, dass Jamie Vardys Name bald regelmässiger verwendet wird. Als Synonym für Weltklasse.