Einst «segnete» IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch (Amtszeit von 1980 bis 2001) die Olympischen Spiele im Rahmen der Schlussfeier. Würde er es sagen? Oder doch nicht?
Der Schöpfer der modernen, kapitalistischen Spiele pflegte nämlich zum Abschluss der Spiele feierlich zu verkünden: «the best ever» («die besten Spiele aller Zeiten»). Das höchste Lob.
Nur ein einziges Mal verweigerte er diese Adelung. Nach den Chaos-Spielen von 1996 in Atlanta. Damals höhnten sogar US-Medien, es sei ein Wunder, dass sich Muhammad Ali beim Entzünden der olympischen Flamme nicht die Finger verbrannt habe.
Keine Frage: Am Sonntag würde Juan Antonio Samaranch die Spiele von Pyeongchang mit dem höchsten Lob ehren und als «the best ever» bezeichnen. Seine Amtsnachfolger haben leider nicht mehr das Rückgrat zu solchen pointierten Aussagen.
Sieben Punkte zeigen, uns warum wir 2018 zwar nicht die besten, aber die bestfunktionierenden aller Zeiten gesehen haben.
Die Organisation ist nahezu perfekt. Noch perfekter als in Sotschi 2014. Sogar die Busse des olympischen Transportsystems fahren mit der Pünktlichkeit von helvetischen Eisenbahnen.
Ein ganz spezieller Charme. Die Spiele sollen Glanz, Macht und Einfluss einer Nation der Welt vor Augen führen. «Powerspiele». Das war ganz ausgeprägt 2008 in Peking und 2014 in Sotschi so. Aber auch Vancouver (2010) und London (2012) waren nicht frei von diesem Pathos.
Pyeongchang ist anders. Freundlicher, charmanter, bescheidener. Südkorea geht es nicht darum, Macht zu demonstrieren, sondern ein guter Gastgeber zu sein.
Eine leise Heiterkeit und Gelassenheit ist sogar bei den Sicherheitskontrollen spürbar. Es gibt eine koreanische Weisheit, die zu dieser überaus angenehmen Atmosphäre beiträgt: eine Organisation soll möglichst perfekt sein – aber nur zu 90 Prozent. Damit noch etwas Freiraum nach links und rechts, nach unten oder oben bleibt.
Halbleere Stadien und Tribünen. Die Koreanerinnen und Koreaner haben, abgesehen von ein paar Eissportarten, keine Beziehung zum Wintersport. Die meisten Wettbewerbe verfolgen sie mit einer Mischung aus Respekt, Neugierde, Verwunderung und Staunen. Ungefähr so, wie wir ein seltsames Insekt oder ein exotisches Tier betrachten. Von einer Stimmung wie bei den vorangegangenen Winterspielen kann nicht die Rede sein. Die Stadien und Tribünen sind oft halb leer.
Der Wind und die Kälte täuschen hier darüber hinweg, dass Winterspiele keine Winterspiele mehr sind. Der olympische Park unten in Gangneung, das olympische Disneyland, das emotionale Herzstück der Spiele, hat den Charme einer Gewerbeausstellung. Wer nicht weiss, dass es sich bei der Veranstaltung um Olympische Spiele handelt, wähnt sich in einem hastig und nur als Provisorium errichteten, eingezäunten Einkaufs- und Freizeitpark.
Die Romantik der Winterwunderlandschaften, strahlend sich erhebender Berge ist dahin. Wir haben es mit einer Sportindustrie zu tun, die ihre Produktionsstätte dort aufbaut, wo dafür genug bezahlt wird. 2022 werden wir gar Winterspiele in Peking haben. Das ist mindestens so absurd wie eine Fussball-WM in Katar. Und doch logisch. Peking kann jeden Preis bezahlen. Katar auch. Peking muss nicht das Volk fragen. Katar auch nicht.
Pyeongchang (und noch mehr Tokyo in zwei und Peking in vier Jahren) zeigt uns, wohin die Reise dieser Welt gehen wird. Die Spiele – Sommer und Winter – folgen der Spur des Geldes. Sie öffnen Wege in den riesigen Zukunftsmarkt Asien und sind deshalb für die die Wirtschaft interessant. Die Wintersport-Industrie und Wintersport-Verbände versuchen das gewaltige, noch weitgehend unerschlossene Potenzial dieses Marktes durch OlympischeSpiele (2018 Pyeongchang, 2022 Peking) zu erschliessen.
Dabei ist nicht mehr die Anzahl Zuschauer in den Stadien und auf den Tribünen entscheidend. Sondern die Anzahl Menschen, denen über TV-Übertragungen eine Werbebotschaft vermittelt werden kann.
Seit bald 100 Jahren sind die Spiele und die Politik untrennbar miteinander verknüpft. Inzwischen dürfte das IOC neben der katholischen Kirche und der FIFA die reichste weltweit operierende nicht-staatliche Organisation sein. Das IOC hat sich inzwischen aus der Abhängigkeit der Politik weitgehend befreit.
Während des «Kalten Krieges» erschütterten immer wieder Boykotte die Spiele: 1956 verzichtete sogar die Schweiz wegen des sowjetischen Einmarsches in Ungarn auf die Spiele in Melbourne. 1976 blieben 22 afrikanische Staaten den Spielen fern. 1980 fehlten in Moskau die Amerikaner und 1984 folgte in Los Angeles die Retourkutsche: die Sowjets und die meisten Ostblockstaaten blieben zu Hause. Die Politik gab den Takt vor.
Diese Zeiten sind längst vorbei. Nicht, weil es nichts mehr zu boykottieren gäbe. Aber seit die Profis nicht mehr ausgeschlossen sind (seit 1984), sind die Spiele ein brummendes, globales Geschäft und durch die Milliarden aus dem TV-Business so mit der Wirtschaft verzahnt, dass sich niemand mehr einen Boykott leisten mag.
Nun sind die Spiele zu einer begehrten globalen Bühne für politische Interessen geworden und das IOC macht die Spielregeln. Grotesk: keiner hat diese Bühne hier so geschickt genutzt wie Nordkoreas grosser Vorsitzender Kim Jong-un mit der Seifenoper um das vereinigte koreanischen Frauen-Eishockeyteam.
Wichtiger als volle Stadien und Tribünen ist eine reibungslos funktionierende Organisation und die Produktion von perfekten TV-Bildern. Die Traum- und Geldmaschine des IOC funktioniert so gut wie noch nie. Deshalb sind diese Spiele die bestfunktionierenden aller Zeiten. Aber nicht die besten. Weil die Sport-Romantik ein wenig fehlt.
Der Mensch lebt ja nicht vom Brot, vom Geschäft allein. Er braucht auch etwas fürs Gemüt, für die Seele. Ein bisschen mehr Stimmung und Rock'n'Roll und eine Prise Chaos hätten dem Romantiker in Pyeongchang durchaus gefallen.