Seine Geschichte beginnt in Unterwasser, einem kleinen Dorf fast zuoberst im Toggenburg. Hier ist Simon Ammann auf einem Bauernhof aufgewachsen, mit den Churfirsten vor sich und mit dem Säntis im Rücken. Einen Monat vor den Olympischen Spielen von Salt Lake City treffe ich den Skispringer und seine Familie nach der Vierschanzentournee. Die Gemeinde gibt ihm nach dem sechsten Gesamtrang einen kleinen Empfang. Anwesende Reporter: zwei. Niemand kann sich vorstellen, was hier in einigen Wochen los sein wird.
Simon Ammann lancierte seine Weltcupkarriere mit einem Paukenschlag. Dank Rang 15 in Oberstdorf, gleich beim ersten Einsatz auf der höchsten Stufe, qualifizierte sich der Bauernbub für die Olympischen Spiele von Nagano 1998. Der 16-Jährige staunte und lernte in Japan. Das «Abenteuer Olympia» und der Rummel um die fünf Ringe standen vor dem sportlichen Abschneiden. «Dass Salt Lake City nicht meine ersten Spiele waren, kam mir zugute», urteilt er im Rückblick.
Als am 10. Februar 2002 der Wettkampf auf der Normalschanze ansteht, zählt Simon Ammann zu den Anwärtern auf eine Medaille. Doch Gold traut ihm, der überhaupt noch nie ein Weltcupspringen gewinnen konnte, niemand zu. Nach vier Podestplätzen zu Beginn des Winters zeigt die Formkurve eher nach unten. Hinzu kommt ein Trainingssturz im deutschen Willingen, der für eine einmonatige Wettkampfpause vor den Olympischen Spielen sorgt.
Doch Ammann überrascht im Utah Olympic Park alle. Vor den favorisierten Sven Hannawald und Adam Malysz gewinnt er die Goldmedaille. Dabei traute man ihm, der als guter Flieger bekannt ist, eher Edelmetall auf der Grossschanze zu. Im Zielraum scheinen ihn seine Teamkollegen beinahe zu erdrücken vor überschwänglicher Freude.
Was folgt, ist legendär: Das Interview mit dem Schweizer Fernsehen. Aus Ammann sprudelt unkontrolliert ein Gefühlsschwall heraus, von dem zwei Elemente haften bleiben: Sein Juchzer und sein «Voll geil!»-Schrei.
Wie aussergewöhnlich der Tag ist, zeigt das Ende des Gesprächs: Freudig umarmen sich der Skispringer und die TV-Legende Beni Thurnheer – gewissermassen stellvertretend für die ganze Schweiz, die den quirligen 20-Jährigen umgehend in ihr Herz schliesst. Thurnheer führt das Interview übrigens mit einem Mikrofon des finnischen Fernsehens; das Schweizer Fernsehen glaubte nicht an eine Medaille …
«Gold-Simi» richtet auch seinen Toggenburger Landsleuten einen Gruss aus. Er scheint sie zu kennen, sagt schelmisch, er hoffe, es gebe nicht zu viele Schnapsleichen.
Da weiss er noch gar nicht, dass der Gemeindepräsident im Restaurant Sternen spontan eine Freinacht ausruft und obendrein gleich die erste Runde auf Kosten der Gemeinde offeriert. Noch selten dürfte ein politischer Entscheid derart beklatscht worden sein.
Keine Schnapsleichen trifft man in Simon Ammanns Elternhaus. Eine Stunde nach dem Goldsprung sitze ich am Küchentisch der Ammanns, führe kurze Interviews fürs Radio. Die bescheidenen Leute sagen es nicht, aber ihre Blicke verraten es: Sie platzen vor Stolz.
Dabei hat Vater Heiri den ersten Durchgang nicht einmal gesehen, weil er noch mit Melken beschäftigt war. Ammann wirke cool, habe der Fernsehreporter vor dem zweiten Sprung gesagt, zitiert ihn Heiri Ammann und lacht: «Also so cool war er in dem Moment sicher nicht!»
Mit dem Triumph auf der Grossschanze und seiner zweiten Goldmedaille wird Simon Ammann endgültig zum Superstar des Schweizer Sports. Mit dem silbernen Mantel der Schweizer Delegation sieht er bei den Medaillenfeiern aus wie der Zauberlehrling aus dem Film: «Harry Potter der Lüfte» wird er gerufen.
Bei seiner Rückkehr aus den USA steigt in Unterwasser das grösste Fest aller Zeiten. Die beiden Schwingerkönige Jörg Abderhalden und Nöldi Forrer tragen den Überflieger in die proppenvolle Tennishalle, die Begeisterung ist grenzenlos.
Hier kennt fast jeder Simi. In der Schule hätten ihn die anderen immer gehänselt und ausgelacht, erzählt mir eine seiner ehemaligen Klassenkameradinnen: «Du kleiner Skispringer, aus dir wird doch nie etwas», hätten sie gesagt. Simi habe dann jeweils bloss geantwortet: «Wartet nur ab, eines Tages zeige ich es euch.»
Simon Ammann hat es ihnen gezeigt. Nicht nur ein Mal, nicht nur zwei Mal. Sondern in Vancouver 2010 noch ein drittes und ein viertes Mal mit Olympiagold. Mit den Weltmeistertiteln auf der Grossschanze 2007 und im Skifliegen 2010. Mit drei weiteren WM-Medaillen. Mit 23 Weltcupsiegen und 80 Podestplätzen. Mit einem Sieg im Gesamtweltcup. Mit der zweimaligen Wahl zum Schweizer Sportler des Jahres (2002 und 2010).
Zuhause in Unterwasser lacht ihn schon lange niemand mehr aus. Dort ist Simon Ammann seit 2010 Ehrenbürger.