Beginnen wir mit der Analyse eines Hockey-Optimisten: Den Schweizern konnte nichts Besseres passieren als die Blamage gegen Dänemark (3:5). Weil nach diesem schmählichen, aber heilsamen Abschluss der Gruppenspiele nun Demut und Bescheidenheit zurückgekehrt sind.
Vor dem Turnier, ja noch nach den Niederlagen in den beiden ersten Gruppenspielen gegen Russland (0:1) und Tschechien (1:2 n.P.), hatten Nationaltrainer Patrick Fischer und seine Spieler den Kopf im Himmel der Medaillen. Aber mit den Füssen sind sie in der Vorrunde nicht aus dem Tabellenkeller (10.) hinausgekommen. Und so wartet nun bereits im Achtelfinale mit Tschechien (7. der Vorrunde) ein Grosser. Oder besser: ein gleich Grosser. Ein Gegner, dem die Schweizer auf Augenhöhe begegnen.
Es ist zwar richtig, gross zu denken und Träume und Visionen zu haben. Nur wer gross denkt, kann Grosses vollbringen.
Patrick Fischer hat sich den WM-Titel zum Ziel gesetzt. Und kein anderer Nationaltrainer unserer Geschichte ist so nahe an den WM-Titel herangekommen: Der Final von 2018 gegen Schweden ist erst im Penalty-Schiessen verloren gegangen.
Nun ist die erste Olympische Medaille seit 1948 zum Ziel erklärt worden. Aber es ist heikel grosse Ziele öffentlich zu verkünden. Ein Blick zurück ist lehrreich.
Die Schweizer haben in der Neuzeit zwei Mal bei einem Titelturnier Wunder vollbracht: Bei der WM 2013 in Stockholm (2.) und 2018 in Kopenhagen (2.). Zu beiden Turnieren sind sie als krasse Aussenseiter angetreten. Wichtigstes Ziel war erst einmal die Qualifikation für den Viertelfinal. Niemand erwartete einen Exploit.
Mehr noch: Es geht 2013 für Sean Simpson und 2018 für Patrick Fischer auch um den Job. Sean Simpson hatte 2012 die WM auf dem miserablen 11. Schlussrang beendet. Die Kritik war harsch.
2018 ist Patrick Fischer kurz vor der WM beim Olympischen Turnier schon im Achtelfinal gegen Deutschland gescheitert. Die Kritik war bissig.
Mit geringen Erwartungen anreisen und ruhmreich heimkehren wie 2013 und 2018: Das hat bei uns schon immer besser funktioniert als mit Pauken und Trompeten eine WM- oder Olympia-Expedition zu starten.
Nun sind die Schweizer in Peking auf Feld eins zurückgeworfen worden und die Zielsetzung lässt sich griffig auf einen Satz reduzieren: «Lifere, nid lafere».
Ausreden gibt es jedenfalls keine mehr. Die heimische Liga zu wenig gut? Das ist völliger Unsinn. Nach der russischen KHL stellt unsere National League die meisten Spieler bei diesem Turnier. Mehr als 50.
Viele Stars aus unserer Meisterschaft spielen bei ihren Teams in Peking die erste Geige. Langnaus Harri Pesonen hat beispielsweise gegen Schweden in der Verlängerung den Siegestreffer (4:3) erzielt.
Wenn ein «Langnauer» ein Olympischer Held sein kann, dann ist dazu auch ein Zuger oder Zürcher oder Davoser in der Lage.
Wir können sogar sagen: Wer das Privileg hat, in unserer National League spielen zu dürfen, hat optimale Voraussetzungen, um in Peking ein Olympischer Held zu werden.
Der besondere Olympische Modus macht es möglich, einen Fehlstart zu korrigieren. Die Deutschen haben 2018 mit einem 2:5 gegen Finnland und einem 0:1 gegen Schweden begonnen. Im dritten Spiel reichte es bloss zu einem mühseligen Penalty-Sieg (3:1) gegen Norwegen. Die Kritik war harsch.
Die Wende bringt der Verlängerungssieg im Achtelfinal gegen die Schweiz (2:1). Am Ende erreichen die Deutschen den Final, den sie gegen Russland erst in Verlängerung verlieren.
Ein solcher Steigerungslauf ist auch für die Schweizer möglich. Die Chancen auf einen Sieg gegen Tschechien stehen ganz nüchtern betrachtet mindestens 50:50.
Am 16. Mai 2013 besiegen die Schweizer die Tschechen im WM-Viertelfinal in Stockholm durch Tore von Denis Hollenstein und Roman Josi 2:1 und erreichen schliesslich den Final (1:5 gegen Schweden). Der heutige Nationaltrainer Patrick Fischer ist als Assistent von Sean Simpson dabei.
Hier haben die Schweizer das Gruppenspiel am 11. Februar gegen die Tschechen nach Penaltys 1:2 verloren. Der Optimist sagt: Wenn es zählt, gewinnen wir gegen Tschechien. Wenn es noch nicht zählt, verlieren wir knapp.
So oder so: Der Torhüter kann die Differenz machen. Im Viertelfinal von 2013 machte Martin Gerber diese Differenz. Der Optimist sagt: Leonardo Genoni oder Reto Berra sind mindestens so gut wie Martin Gerber.
Ein Sieg gegen Tschechien kann die gleiche Schubkraft entwickeln wie damals 2013 in Stockholm. Denn: Im Falle eines Sieges wartet im Halbfinal Finnland. Die Finnen haben wir am 17. Mai 2018 im Viertelfinal durch Tore von Enzo Corvi, Joël Vermin und Grégory Hofmann 3:2 besiegt. Das Trio ist erneut dabei. Das Ende aller Ausreden nach der missglückten Vorrunde kann der Anfang eines neuen Hockey-Märchens sein.
Der Optimist weist darauf hin: Soeben haben unsere Hockey-Frauen in Peking vorgemacht, wie ein Fehlstart korrigiert werden kann: Nach drei Niederlagen (1:12 gegen Kanada, 2:5 gegen Russland und 0:8 gegen die USA) in der Vorrunde haben sie in einem dramatischen Viertelfinal Russland 4:2 gebodigt.
Nun spielen die Schweizerinnen zum zweiten Mal nach 2014 (Bronze in Sotschi) um Medaillen.
Der Optimist hat seine Pflicht getan und möchte nun doch noch ganz kurz ein wenig polemisieren. Politisch zwar nicht ganz korrekt (wofür er sich entschuldigt). In der Sache aber schon.
Es wäre schon ein wenig bitter für Nationaltrainer Patrick Fischer, wenn ihm nach Peking künftig vor einem Titelturnier der Ratschlag erteilt werden müsste: «Du solltest einfach darauf achten, dass es deine Spieler so machen wie die Frauen in Peking und Frauen-Nationaltrainer Colin Muller um Rat fragen.» Sollten die Schweizer am Dienstag gegen Tschechien aus dem Turnier ausscheiden, so könnte Patrick Fischer für den Rest des Turniers bei Colin Muller hospitieren.
Grégory Hofmann würde es ganz tief in seiner Hockey-Seele, dort wo es niemand sieht, sicherlich ein wenig wurmen, wenn nach diesem Turnier gesagt werden könnte: Wenn der Hofmann so kaltblütig im Abschluss wäre wie Alina Müller, dann wären in Peking auch die Männer bis in den Halbfinal gekommen.
Ramon Untersander ist ein Musterprofi und ein Gentleman. Auch wenn dieser Vergleich ein wenig an den Haaren herbeigezogen ist: Es wäre ihm sicherlich lieber, dass niemand nach Peking sagen darf: Die Frauen hatten beim Olympischen Turnier mit Lara Christen den besseren Verteidigungsminister bzw. Verteidigungsministerin.
Nüt für unguet.