Die Worte Roger Federers klingen wie ein Plädoyer für Ernests Gulbis. «Ich habe es immer lustig gefunden, wenn Spieler wie McEnroe oder Ivanisevic ihre Schläger geworfen haben», erzählt der 17-fache Grand-Slam-Champion. «Ich bin der Meinung, man sollte die Spieler ihre Emotionen ausleben lassen und fand es lässig, wenn auch mal einer mit dem Schiedsrichter diskutiert hat.»
Federer gesteht, dass er auch deshalb gegen die Einführung von Hawkeye gewesen sei. «So sind die Charaktere stärker zum Vorschein gekommen.» Gulbis sei sicher ein solcher, auch wenn er früher viel extremer gewesen sei. «Es ist unglaublich, wie gut sich die Spieler heute beherrschen, das ist ein wenig schade.»
Nicht nur auf dem Platz hat Gulbis schon verschiedentlich für Schlagzeilen gesorgt. In Stockholm wurde er 2009 von der Polizei verhaftet, weil er angeblich Prostituierte angesprochen hatte. Das «Missverständnis» wurde mit einer Busse aus der Welt geschafft. Auch sonst eckt er verschiedentlich mit seinen Äusserungen an.
Am Freitag sagte er zum Beispiel, er hoffe sehr, dass seine jüngeren Schwestern nicht Tennisprofis würden. «Eine Frau muss das Leben etwas mehr geniessen. Sie muss über Familie und Kinder nachdenken. Wie willst du das machen, wenn du bis 27 Tennis spielst?» Nicht immer ist klar, wie ernst er solche Aussagen meint. Maria Schaparowa lachte jedenfalls nur und versicherte: «Er ist eben ein Witzbold, der gerne Spässe macht.»
Unbestritten ist aber, dass Gulbis einer der talentiertesten Spieler seiner Generation ist. Dass er seit dem French Open 2008 bis jetzt nie mehr die zweite Runde eines Grand-Slam-Turniers überstanden hatte, zeigt, wie wenig er bisher aus seinen Möglichkeiten gemacht hat. «Jetzt habe ich aber quasi im letzten Moment, mit 25 Jahren, noch die Kurve gekriegt», glaubt der Lette.
Lange hatte er das Training nicht ernst genommen. «Wie hätte ich mich auch aufraffen können, wenn es doch so viele Ablenkungen gibt», fragt er. «Playstation oder Fernsehen, beispielsweise.» Missen will er diese Zeit nicht. «Als Mensch bin ich heute besser dran als viele andere, denn ich habe auch die Schattenseiten des Verlierens kennengelernt.»
Dabei kann er sich glücklich schätzen. Der Sohn eines millionenschweren Investmentunternehmers und einer Theater-Schauspielerin ist in eine der reichsten Familien Lettlands hineingeboren und wurde nach Schriftsteller Ernest Hemingway benannt.
Seit er mit dem ehemaligen Becker-Coach Günther Bresnik zusammenarbeitet, geht es auch sportlich wieder aufwärts. In diesem Jahr hat Gulbis in Marseille und vor einer Woche in Nizza bereits zwei ATP-Turniere gewonnen und ist als Nummer 17 der Welt so gut klassiert wie nie zuvor. Ausserdem hat er keinerlei Angst vor Roger Federer.
Being stuck in traffic in Paris is not so bad! On the way to practice @rolandgarros #opera pic.twitter.com/3P6TP789wS
— Roger Federer (@rogerfederer) 31. Mai 2014
«Er ist sicher der Favorit», hält der Lette fest. «Aber ich habe keine Angst. Die meisten haben gegen ihn schon verloren, bevor sie auf den Platz gehen. Das wird mir nicht passieren!» Er wisse, wie er gegen Federer spielen müsse, wolle dies aber noch nicht verraten, sagte er am Freitag. Alle drei bisherigen Begegnungen gingen über die volle Distanz von drei Sätzen, zwei zu Gunsten des Schweizers, einmal gewann Gulbis (2010 in Rom).
Federer ist sich vor seinem zwölften Achtelfinal in Roland Garros (eine neue Rekordmarke) der Schwierigkeit seiner Aufgabe bewusst. «Er schlägt enorm gut auf. Das wird eine ganz enge Sache.» Der grösste Vorteil für den 32-jährigen Basler könnte Gulbis' Schwäche in langen Matches sein. Der Osteuropäer hat vier seiner letzten fünf Fünfsätzer verloren. Oder dass ihn doch wieder einmal sein Temperament ein Streich spielt. (pre/si)