Erstmals in der Geschichte entscheidet eine «Finalissima» am Masters, wer das Tennisjahr als Nummer 1 beendet. Novak Djokovic muss die ATP World Tour Finals gewinnen, wenn er wie 2011, 2012, 2014 und 2015 über Weihnachten die Weltrangliste anführen will. Die Erfahrung der letzten Jahre spricht für den Serben: Djokovic kann das Masters zum fünften Mal in Folge gewinnen. Seit 2012 kassierte er in der Londoner Arena in 23 Einzeln nur eine Niederlage – vor einem Jahr gegen Roger Federer in den Gruppenspielen.
Und alle, die meinten, Djokovic habe seit dem letzten Grand-Slam-Sieg im Frühling in Roland-Garros das Tennisspielen halbwegs verlernt, die nahmen am Samstagabend erstaunt zur Kenntnis, wie der Serbe gegen Kei Nishikori mit einer schier unglaublich guten Leistung in 66 Minuten 6:1, 6:1 gewann.
Nicht viel fehlte, und Djokovic hätte die Jahresend-Nummer-1 vorzeitig feiern können. Beinahe hätte Milos Raonic Djokovic Schützenhilfe geleistet. Der 25-jährige Kanadier führte im Halbfinal gegen Murray mit einem Satz (7:5) und einem Break (2:1), erspielte sich im Tiebreak des Entscheidungssatzes einen Matchball (bei 9:8), verlor aber nach drei Stunden 38 Minuten mit 7:5, 6:7 (5:7), 6:7 (9:11).
Noch nie dauerte am Masters eine Partie länger. Schon am Mittwoch gegen Kei Nishikori stand Murray während fast drei Stunden und 21 Minuten im Einsatz. Im Halbfinal gegen Raonic benötigte der Schotte nochmals 17 Minuten und 39 Sekunden länger bis zum verwandelten vierten Matchball.
Die Frage steht im Raum: Reichen Murrays Kräfte nach zwei derartigen Marathons noch aus, um auch im Final gegen Novak Djokovic wieder auf höchstem Niveau spielen zu können? Murray: «Wie sie sicherlich bemerkten, war mein Halbfinal unglaublich kräfteraubend. Ich musste unglaublich hart kämpfen. Zweimal vor dem Tiebreak mit dem Sieg vor Augen den Aufschlag nicht durchzubringen, war äusserst frustrierend. Noch nie war ich nach einem Spiel in der Halle derart müde. Normalerweise dauern Partien indoors nicht annähernd so lang.»
Aber Murray benötigt am Sonntag nochmals eine Par-Force-Leistung, um die Nummer 1 mit Erfolg zu verteidigen. Murray: «Natürlich fühle ich mich müde und kaputt. Ich spielte in den letzten Monaten extrem viel Tennis. Aber es bleibt mir nichts anderes übrig, als am Sonntag nochmals alles zu versuchen und alles zu geben.»
Murrays Halbfinal bot alles. Der dramatische, packende Spielverlauf erinnerte an den Halbfinal vor zwei Jahren zwischen Roger Federer und Stan Wawrinka ebenfalls an den ATP World Tour Finals. Damals setzte sich Federer unmittelbar vor dem gewonnenen Davis-Cup-Final von Lille mit 4:6, 7:5, 7:6 (8:6) gegen Wawrinka durch; anschliessend entstand eine Kontroverse, weil Mirka Federer Wawrinka zwischen den Ballwechseln beleidigt haben soll.
Andy Murray steigt mit der Referenz von 23 Siegen hintereinander und Turniersiegen in Peking, Schanghai, Wien und Paris-Bercy in die letzte «Schlacht» der Saison. Während seiner Siegesserie hat der 29-jährige Schotte nur einmal wie gegen Raonic einen Satzrückstand aufholen müssen. Im Achtelfinal von Wien verlor er gegen Gilles Simon den ersten Satz mit 4:6, die nächsten zwei Durchgänge holte sich Murray jeweils mit 6:2. Bereits zum zweiten Mal diese Saison gewann Murray gegen Milos Raonic in London nach Satz- und Breakrückstand (nach dem 6:7, 6:4, 6:3 im Final im Londoner Queen's Club im Juni). (sda/drd)