Kampferprobte Häftlinge werden aus den Gefängnissen entlassen. Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen und werden mit Waffen ausgerüstet. Exilanten sollen zurückkehren, um die Ukraine gegen die Invasoren aus Russland zu verteidigen.
Ein Aufruf, dem auch Sergej Stachowski folgt. Schon 2014 hatte der 36-Jährige seinen Lebensmittelpunkt nach Budapest, die Hauptstadt Ungarns, verlegt. Nun kehrt er in die Ukraine zurück. Stachowski kam in Charkiw zur Welt. Die zweitgrösste Stadt des Landes steht derzeit heftig unter Beschuss.
Während Jahren war Stachowski der beste ukrainische Tennisspieler, er war die Nummer 31 der Welt und gewann vier Turniere. Seine sportliche Sternstunde erlebte er 2013, als er in Wimbledon in der zweiten Runde Titelverteidiger Roger Federer bezwang. Für den «Guardian» war es «der Schock aller Epochen», «die grösste Sensation in der Geschichte der Championships, vielleicht des Tennis überhaupt». «Niemand hatte das erwartet, nicht mal ich selber», erinnerte sich Stachowski später in der «Basler Zeitung». «Als ich danach in die Umkleide kam, stand ein Thron für mich bereit, den die Kollegen für mich aus Kissen gebaut haben.»
Fortan war Sergej Stachowski für viele «der Typ, der Roger in Wimbledon geschlagen hat», wie er selber sagte. Erst Ende Januar, über sieben Jahre nach seinem Coup in Wimbledon, beendete er seine Karriere.
Keinen Monat später tauscht er das Tennisracket gegen eine Schusswaffe. Sein Bruder und sein Vater arbeiten als Chirurgen in der Ukraine und seien «sehr gestresst». Sie schlafen im Luftschutzkeller und sie tun, was sie tun müssen: Sie ziehen in den Krieg», sagte der 36-Jährige unter Tränen gegenüber Sky News. Auch er werde zur Waffe greifen und kämpfen. «Das ist der einzige Grund, weshalb ich zurückkehren werde.»
Er habe keine militärische Ausbildung, «aber private Waffenerfahrung», wie er sagte. «Ich sehe keinen Grund, weshalb die Mehrheit meiner Landsleute ihr Leben riskieren muss, um ihre Familien zu schützen, sie in Sicherheit zu bringen, während ich nur dabei zuschauen werde», sagte Stachowski.
Der seit Jahren schwelende Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, der immer wieder eskalierte, hat Stachowski politisiert. «Lange habe ich mich nicht gross für Politik interessiert. Aber wenn dein Land ausgelöscht zu werden droht, ändert sich das plötzlich», sagte er in der NZZ.
Nachdem Russland 2014 die Halbinsel Krim annektiert hatte, durchlebte Sergej Stachowski aufreibende Monate. «In meiner Heimat starben viele Menschen. Sie starben, weil sie die Souveränität der Ukraine verteidigten. Viele waren deutlich jünger als ich», sagte er vor drei Jahren.
Der Krieg ist auch eine Belastung für die Ehe. Denn Stachowskis Frau ist Russin, das Paar hat drei Kinder – und redet schon lange nicht mehr über Politik. «Wir einigten uns darauf, weil wir sonst unsere Familie ruiniert hätten», sagte Stachowski. Seine Zeit nach der Karriere hatte er sorgfältig und von langer Hand geplant. Bereits seit 2018 ist er Winzer mit eigenem Anbaugebiet in der historischen Region der Karpatenukraine im Westen des Landes im Grenzgebiet zu Ungarn, der Slowakei und Rumänien.
Nicht nur die Ehe, auch Freundschaften stehen für Stachowski auf dem Spiel. Sein bester Freund ist der ehemalige Spieler Michail Juschni, ein Russe. Sie sind beide Patrioten und hatten Differenzen wegen des Krieges, inzwischen meiden sie das Thema. Seit der Annexion der Krim spielt Stachowski keine Turniere mehr in Russland und war auch nie mehr dort. Schon 2019 sagte er: «In Russland wirft man mir vor, den Konflikt geschürt zu haben. Ich hätte ernsthafte Bedenken, nach Russland einzureisen.»
Nun ruft Stachowski zu Protesten gegen die russische Invasion in seiner Heimat auf und kritisiert die Politik des Westens scharf. Stachowski sagt: «Niemand von uns glaubte, dass dies passieren könnte. Und doch passierte es. Aber keiner der politischen Führer Europas oder auf der Welt ist bereit, um für die Ukraine und für ein besseres Europa zu kämpfen. Dabei wollen wir nur ein normales, zivilisiertes Land mit einer Demokratie sein, in dem wir unseren Präsidenten wählen können.» Für Amtsinhaber Wolodimir Selenski hat er nur lobende Worte übrig: «Alle Vorgänger waren ein Witz. Er mag ein Komiker gewesen sein, nun ist er der Präsident des Volkes.»
Wolodimir Selenski stehe für die Ukraine ein und sei bereit, dafür mit seinem Leben zu bezahlen. Wie nun Sergej Stachowski. Der Mann, der einst bekannt wurde als «Typ, der Roger in Wimbledon geschlagen hat».