War es der Mut der Verzweiflung, Selbstbewusstsein oder Grössenwahn, als Richard Williams den Entschluss fasste, aus seinen Töchtern Venus und Serena Tennisstars zu machen? Er tat das, noch bevor die beiden zur Welt gekommen waren und aus Kalkül, nachdem er im Fernsehen gesehen hatte, wie die Rumänin Virginia Ruzici für einen Turniersieg ein Preisgeld von 30'000 Dollar erhalten hatte. Der Afroamerikaner Williams erkannte im Tennis, dem Zeitvertreib der weissen Oberschicht, die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Raus aus Compton, einem Gangster- und Drogenviertel in Los Angeles, wo zwei spätere Ikonen der Sportgeschichte aufwachsen.
Diese Geschichte erzählt zumindest der Film «King Richard», der am Donnerstag in die Kinos kommt, in dem Will Smith die Hauptrolle spielt, und der gleich in sechs Kategorien für die Oscars nominiert ist.
An diesem Anspruch scheitert das mit 144 Minuten zu lange geratene Werk krachend. Zu viel aus der Geschichte der Williams-Schwestern ist bekannt, das wohl aus dramaturgischen Überlegungen ausgeblendet wird. Dass Vater Richard schon vor seiner Ehe mit Oracene Price verheiratet gewesen war und sich nicht um die fünf Kinder kümmerte. Dass diese Ehe 2002 nach 23 Jahren geschieden wurde. Oder der Tod der Halbschwester von Venus und Serena, Yetunde, die 31 Jahre alt war, als sie erschossen wurde. Und dass Richard Williams, der Mitte Februar den 80. Geburtstag feierte, nach einem Hirnschlag vor sechs Jahren auf Pflege angewiesen ist und unter Vormundschaft steht, wird auch im Abspann nicht erwähnt.
«King Richard» hat nur bedingt dokumentarischen Anspruch, stattdessen verklärt er eine spannende Geschichte zum Heldenepos eines Mannes, der sich entgegen jeder Wahrscheinlichkeit nach oben gekämpft hat – trotz Armut, trotz Rassismus, trotz der Vorbehalte der weissen Mittelschicht. Sie greift auf, wie Williams, ein Autodidakt, in einem 85-seitigen Dokument den Aufstieg seiner Töchter an die Weltspitze niedergeschrieben hat.
«King Richard» suggeriert, Richard Williams habe den sozialen Aufstieg orchestriert, dabei gehörte er schon zuvor der Mittelklasse an, wie er in seiner 2014 verfassten Autobiografie «Black and White: The Way I See It» schreibt. 810'000 Dollar habe er angespart, um die Karrieren von Venus und Serena anzustossen. Die Familie lebte damals in Long Beach, der Umzug nach Compton war Williams' persönlichem Drehbuch geschuldet: Seine Töchter sollten dort den Härten des Lebens ausgesetzt werden, um dadurch die mentale Stärke zu entwickeln, um später auf dem Tennisplatz bestehen zu können. Auch diese Episode gehört zur Legendenbildung.
Statt die vorhandenen Brüche in den Biografien aufzuarbeiten, wird mit Klischees gespielt: Wie Richard Williams wie ein Lumpensammler über die Tennisplätze streunt und Bälle aus Mülleimern fischt, die von weissen Spielern aussortiert worden waren. Wie er bei Wind und Wetter und auf öffentlichen Plätzen trainieren lässt. Dass er die Kinder nur deshalb Tennis spielen lasse, um sie von der Strasse fernzuhalten. Wie er die Familie im VW-Bus umherfährt, während die Kinder fröhliche Lieder trällern. Und wie er auf der Suche nach einem Profitrainer bei Paul Cohen vorstellig wird, der mit John McEnroe und Pete Sampras auf dem Platz steht.
Als Cohen einwilligt, einen Augenschein zu nehmen, drückt Vater Williams Sampras eine Broschüre in die Hand und sagt: «Hier, Pete. Werfen Sie einen Blick rein. Autogramme gibt es später.» Ob sich das alles wirklich so zugetragen hat? Fraglich. Immerhin ist es die Szene, in der die vielleicht einschneidendste Entscheidung fällt: Cohen ist vom Potenzial überzeugt, sagt aber, er könne nur eine der Schwestern trainieren, die ältere Venus.
Richard Williams wird als durchaus liebevoller Vater charakterisiert, der Hartnäckigkeit vorlebt und Demut und Dankbarkeit predigt, aber auch als Sturkopf, Eigenbrötler, Nervensäge und Ein-Mann-Abrissbirne, die alles besser weiss als hochqualifizierte Trainer. Dabei oszilliert er zwischen liebenswürdigem Ekel und visionärem Heiligen. Als seine Töchter in der Akademie der Trainerkoryphäe Rick Macci trainieren, verbietet er ihnen die Teilnahme an Nachwuchsturnieren, was lange belächelt wurde, sich nun aber auszuzahlen scheint. Die 41-jährige Venus und die 40-jährige Serena sind noch aktiv, wenn auch zuletzt oft von Verletzungen geplagt.
Dass die Erzählung zuweilen unkritisch wirkt, dürfte sicher auch daran liegen, dass Venus und Serena sowie deren Halbschwester Isha Price als «Executive Producer» mitwirkten und jeweils das letzte Wort hatten.
Der Hauptprotagonist, Richard Williams, liess sich 2003 von Oracene scheiden, war danach noch einmal mit einer Frau verheiratet, die nur ein Jahr älter ist als Tochter Venus und hatte ein weiteres Kind. Von Venus und Serena hat er sich seither weit entfernt. Zur Premiere «seines» Films konnte er aus gesundheitlichen Gründen nicht kommen.
Richard Williams ist weder ein Heiliger noch ein König, wie seine Tochter Sabrina schon im Vorfeld der Premiere ausrichten liess. Sie gehört zur ersten Familie, die er in den 70er-Jahren verlassen hatte. «Ein König war er nur in seinem Kopf. Er hält sich für den König der Welt, aber niemand, der je mit ihm zu tun hatte, hält ihn für King Richard.» Der Titel sei unverschämt, aber passe zu ihm. Er habe sie in Armut leben lassen, während er zum Millionär wurde.
Das Drehbuch von Zach Baylin walzt die Unbeirrbarkeit seines Helden mit aller Vehemenz aus und biegt die Realitäten zurecht. Der Film endet in Oakland, wo Venus Williams als 14-Jährige und nach drei Jahren ohne Turnier auf der WTA-Tour debütiert und dabei die Spanierin Arantxa Sanchez Vicario an den Rand einer Niederlage bringt. Das kleine Turnier fand in der Halle statt und nicht wie im Film dargestellt im Freien vor einer gigantischen Kulisse. Sanchez Vicario wird zudem als unfaire Taktikerin und als Nummer 1 der Welt dargestellt, was sie erst im Jahr darauf wurde.
Sehenswert ist der Film trotz zahlreicher Makel und der Tatsache, dass er die Dramaturgie höher gewichtet als den Anspruch auf dokumentarische Korrektheit. Denn das Lebenswerk von Richard Williams verdient Respekt. Als er seiner jüngeren Tochter Serena erklären muss, weshalb nur ihre Schwester Venus einen Trainer erhält, sagt er: «Deine Schwester wird die Nummer 1 der Welt. Aber du wirst die beste Spielerin der Geschichte.»
Richard Williams sollte recht behalten. Venus wurde 2002 die Nummer 1, führte die Weltrangliste während acht Wochen an und gewann 7 Grand-Slam-Turniere im Einzel. Serena führte die Weltrangliste während 319 Wochen an, gewann 23 Grand-Slam-Turniere (nur Margaret Court hat mit 24 mehr). Beide wurden Olympiasiegerinnen im Einzel, im Doppel holten sie gemeinsam dreimal Gold, zudem gewannen sie gemeinsam 14 Grand-Slam-Turniere im Doppel und je zwei im gemischten Doppel. (aargauerzeitung.ch)