Knapp 50'000 Menschen leben auf den Färöer Inseln, irgendwo da oben im kalten Norden. Genauer: nördlich von Schottland, auf halbem Weg von Skandinavien nach Island. Es regnet oft, es stürmt, richtig warm wird es nie. Das wissen jene, die die Schafsinseln als Touristen besucht haben. Viele sind es nicht.
Denn ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit geraten die Inseln, die eine autonome Region Dänemarks sind, erst 1990. Damals treten die Fussballer erstmals zu einer EM-Qualifikation an. Mit dem kleinen Problem, dass es auf den Inseln keinen einzigen Fussballplatz mit Naturrasen gibt. Also findet das erste Pflichtspiel der Färinger im Exil statt. 1265 Zuschauer werden im schwedischen Landskrona Zeugen eines Fussballspiels, das die Welt in zwei Ländern zum Beben bringt.
Dass Österreich als haushoher Favorit in die Partie geht, ist selbst Fussballlaien klar. Schliesslich ist unser Nachbarland im Sommer gerade erst an der WM in Italien dabei gewesen und beim Gegner spielen lauter Amateure. Die österreichischen Zeitungen drucken deshalb im Vorfeld Listen mit den höchsten Siegen der Nationalmannschaft. «Mindestens 10:0» würden sie gewinnen, prophezeit Toni Polster, damals Goalgetter des FC Sevilla und später als «Toni Doppelpack» eine Legende des 1. FC Köln.
Es kommt alles ganz anders. Der Gabelstaplerfahrer einer Fischfabrik in Runavik und ein Angestellter einer Wollfabrik machen den Österreichern einen Strich durch die Rechnung. Der eine, der Gabelstaplerfahrer, ist Goalie Jens Martin Knudsen. Der andere ist der einzige Torschütze des Abends: Torkil Nielsen.
Das Leben der beiden verändert sich auf einen Schlag – aber gleichzeitig auch überhaupt nicht. Denn sie sind nun zwar bekannt wie bunte Hunde, aber in einer isolierten Gemeinschaft von 50'000 Menschen hebt deswegen niemand ab. Der Wikipedia-Eintrag von Torschütze Nielsen stellt ihn während längerer Zeit zunächst als einen der besten Schachspieler der Färöer Inseln vor und erwähnt erst dann, um welche Fussballlegende es sich handelt.
Der wahre Held ist ohnehin nicht der Torschütze, sondern Goalie Knudsen, zugleich dreifacher färingischer Turnmeister und auch Goalie der Handball-Nationalmannschaft. «Der Mann mit der Pudelmütze» heisst seine Biografie, und fürwahr, genau das ist er: ein Mann mit einer Pudelmütze. Die ungewöhnliche Kopfbedeckung wird zum Symbol der österreichischen Blamage. Rot-Weiss-Rot verliert nicht nur gegen einen Fussballzwerg, sondern sogar gegen ein Team, dessen Goalie eine Pudelmütze trägt. Unfassbar, so etwas!
Dabei überlegt sich Knudsen vor dem Spiel, ob er sie überhaupt tragen soll – aus Angst, bei einer hohen Niederlage nur noch als «Depp mit der Mütze» bekannt zu sein. Schliesslich überlegt er es sich doch noch einmal. Denn er spielt ja immer so, seit er als 13-Jähriger eine Kopfverletzung erlitt und ihm die Mutter das Spiel verbieten wollte. «Im Ernstfall hätte die Pudelmütze natürlich nichts genutzt», weiss Knudsen, aber die Mutter habe es beruhigt. Einen Rugby-Helm zu tragen, wie später zum Beispiel Petr Cech, erlaubten die Verbände damals noch nicht.
Der überraschende Ausgang des EM-Qualifikationsspiels hat Folgen – in beiden Ländern. Auf den Färöer sind sie positiv. Es entstehen Rasenplätze, der Fussballsport findet mehr und mehr Anhänger. Seit dem historischen 1:0 hat die Nationalmannschaft schon öfters für Achtungserfolge gesorgt, einst zum Beispiel hat sie gegen Deutschland 89 Minuten lang ein 0:0 gehalten, nur um dann doch noch zu verlieren. Und in der Qualifikation für die EM 2016 schlugen die Färinger den früheren Europameister Griechenland sowohl zuhause wie auswärts.
Die Folgen in Österreich: Hohn, Spott und der umgehende Rücktritt von Trainer Josef Hickersberger, von dem seither nur noch als «Färöer-Pepi» die Rede ist. Zwölf Jahre später sagte er in einem Interview, vieles habe sich relativiert, er könne mittlerweile darüber schmunzeln:
Wie hätte Hickersberger seine Spieler vor den Färingern warnen sollen? Er habe ein Freundschaftsspiel beobachtet, «da hat der Goalie mit der Pudelmütze sechs Tore gekriegt.»
Davon wussten seine Spieler auch. «Entsprechend locker und überheblich sind wir dann in die Partie gegangen», gibt Toni Polster, den die Pleite nicht mehr gross kümmert, zu. «So was gehört zu einer Karriere», meint er und bezeichnet das 0:1 als ein «typisches Cup-Spiel».
Die Gegner seien ja «nicht gut» gewesen, erinnert Polster, Österreich habe Chance um Chance gehabt. «Aber der Torhüter hat die Bälle an den Kopf und an die Hände gekriegt. Der wusste selbst nicht, wie er die gehalten hat.» Nun gut, ein Blick ins Archiv zeigt, dass Polster ein anderes Spiel gemeint haben muss, denn dort ist die Rede von einem verdienten Sieg der Färinger und dass Österreich höchstens drei Mal vielversprechend vor das gegnerische Tor kam …
Regisseur Andi Herzog erzählt, wie er Polster während des Spiels nach einer vergebenen Chance anblaffte: «Toni, jetzt wird's dann mal Zeit!» Der Stürmer habe nur geantwortet: «Herzal, bleib ruhig!» Zu allem Übel mussten Herzog und Kollege Peter Pacult nach dem Schlusspfiff auch noch zur Dopingkontrolle. «Wie sollten wir gedopt gewesen sein, so wie wir gespielt haben?», fragte Herzog den Kontrolleur. Womit der Beweis eindrücklich erbracht ist, dass Österreicher über die Gabe verfügen, über sich selber lachen zu können.
Heinz Peischl, der einstige St.Gallen-, Wil- und Thun-Trainer, stand damals mit Polster und Herzog auf dem Rasen. Das 0:1 war seine Länderspielpremiere – ausgerechnet. Kein Wunder, endete Peischls Karriere im Nationalteam nach nur drei Einsätzen rasch. «Auf die Niederlage werde ich bis heute angesprochen», sagte Peischl einst im Magazin Zwölf.
18 Jahre nach Landskrona kam es in der WM-Qualifikation für das Turnier 2010 in Südafrika zum ersten echten Heimspiel der Färöer Inseln gegen Österreich. Und wieder schafften die Inselkicker eine Überraschung: Sie holten ein 1:1. Der Goalie-Held von einst, Jens Martin Knudsen, war wieder mit dabei: als Assistenztrainer.
Bis heute wird der Goalie mit der Pudelmütze auf den legendären 12. September 1990 angesprochen – nicht zuletzt von Österreichern. «Immer wieder stehen Touristen aus Österreich vor meiner Haustür», erzählt Knudsen. «Wenn es nicht zu viele sind, lade ich sie auch zu einem Kaffee ein.»