Eine kleine Bodenwelle ist es nur, in der Abfahrt vom Kleinen Sankt Bernhard, in der 16. Tour-Etappe. Aber sie ist heimtückisch und bei hohem Tempo ausreichend, um Jens Voigt aus der Spur zu tragen. Mit 80 Sachen rast der Saxo-Bank-Fahrer Richtung Ziel, Richtung Bourg-Saint-Maurice. Mit ihm in der Verfolgergruppe: Tour-Leader Alberto Contador.
Und dann das folgenschwere Malheur: Jens Voigt entgleitet die Kontrolle über seinen Hightech-Drahtesel, seine Hände kriegen den Lenker nicht mehr rechtzeitig zu fassen, trotz hilflosem Versuch. Der Radprofi geht frontal zu Boden und schlittert noch einige Meter weiter, was dem hohen Tempo geschuldet ist.
Voigt verliert sofort das Bewusstsein, drei Minuten lang. Eine vierte kommt hinzu, während derer Voigt um ein Haar noch von einem Begleitmotorrad überrollt wird. Bange Minuten? Eine himmelschreiende Untertreibung.
Zwar kommt der Pechvogel wieder zu sich, aber der Blick auf sein Gesicht lässt wenig Gutes erahnen: Schürfungen allenthalben und reichlich Blut. Voigt hat die Augen geschlossen, als er endlich in den Krankenwagen verfrachtet wird.
Ein Bild, das ein anderer so schnell nicht mehr vergessen wird. Tony Martin rast vorbei und gibt seiner in diesem Moment empfundenen Ohnmacht nach dem Rennen wie folgt Ausdruck: «Da graut's einem. Ich bin regelrecht zusammengezuckt. Ich wünsche ihm nur das Beste.»
Auch zwei andere Akteure des Radzirkus geben ihrer tiefen Besorgnis Ausdruck: Milram-Kapitän Linus Gerdemann und Columbia-Sportchef Rolf Aldag. Ersterer sagt: «Wenn man solche Stürze sieht, dann ist alles andere nebensächlich.» Und Aldag ergänzt: «Das war kein schöner Anblick, Jens dort regungslos liegen zu sehen. Da schiessen einem Gedanken durch den Kopf, wenn man seine Familie kennt und weiss, dass die Kinder vor dem Fernseher sitzen.»
Im Eiltempo schafft das Ärzteteam den Verunfallten in den Zielort, von wo ihn ein eilends herbeigerufener Helikopter für genauere Untersuchungen ins Krankenhaus nach Grenoble bringt. Dorthin also, wo Jahre später auch Landsmann Michael Schumacher nach seinem verhängnisvollen Skiunfall behandelt werden wird.
Im Gegensatz zum ehemaligen Formel-1-Weltmeister aber hat Voigt hunderte Schutzengel. Bei ihm wird der Bruch des Jochbeins, eine Gehirnerschütterung und ein Kieferbruch diagnostiziert. Glück im Unglück eben, wenn auch Voigt Tage später noch reichlich mitgenommen dreinschauen wird.
Nur: Just diese Schrammen, gepaart mit seinem unerschütterlichen Optimismus, machen ein zwei Tage später geführtes Fernsehinterview zu einem der grossartigsten, weil tröstlichsten, Interviews überhaupt mit einem eben schwer verunfallten Sportler. Die Zutaten: Jens Voigt, im Wohlfühlkostüm gekleidet, auf seinem Krankenbett sitzend. Rechtes Knie: einbandagiert. Ebenso der rechte Ellbogen. Zahllose blaue Flecken dazu, verstreut auf dem ganzen Körper, aber vornehmlich im Gesicht. Dann: Ein ZDF-Reporter, für den es scheinbar nichts Alltäglicheres gibt, als einen Radprofi 72 Stunden nach einem Horrorsturz im Spital zu interviewen.
Die erste Frage, die das Eis brechen soll, das da nicht ist: «Herr Voigt, drei Tage ist Ihr Sturz nun her, wie geht es Ihnen?»
Jens Voigt: «Na ja, man muss schon sagen, den Umständen entsprechend gut.»
Und dann legt er mit einer Aufzählung der erlittenen Blessuren los. Es sei «nur» das Jochbein gebrochen, «und dann haben die mich an den Händen genäht, am Finger genäht und hier im Gesicht ein bisschen». Aber: «Das ist jetzt nichts, was einen wirklich umbringt. In zehn Tagen werde ich wieder auf dem Rad sitzen.»
Der Reporter will wissen: «An was können Sie sich noch erinnern?»
Jens Voigt: «An gar nichts, eigentlich.»
Weil: «Ich hatte einen totalen Filmriss, also wirklich totalen Filmriss. Ich mach' die Augen auf, seh' das Dach des Krankenwagens und die besorgten Gesichter und habe mir gedacht: ‹Wie zum Geier bin ich hierhergekommen?›» Er habe festgestellt, dass es ihm überall weh tue und er nicht alles habe bewegen können. «Und dann habe ich sozusagen eins und eins zusammengezählt und gedacht: «Offensichtlich bin ich gestürzt.»
Und so sitzt er da, ohne Erinnerungen an den Sturz, aber mit all den Mahnmalen im Gesicht. Jens Voigt wirkt abgeklärt, in sich ruhend, schlichtweg eine saucoole Socke.
Er fährt weiter: «So ein Unfall? Kann halt mal passieren. Ist dumm gelaufen.»
Im Spital wird er rasch erkannt, bald ist er bekannt wie ein bunter Hund. «Hier ist es ja oft so», sagt er zum Schluss, «dass einen die Leute blutend im Bett liegen sehen und dann fragen sie einfach nach einem Autogramm: ‹Herr Voigt, können Sie rasch unterschreiben?› Und ich sage so: ‹Na ja, vielleicht geht's gerade so.› Es gibt einem schon ein warmes Gefühl, muss ich ganz ehrlich sagen, dass einen nach zwölf, dreizehn Jahren in dem Job so viele Leute kennen und Anteil nehmen. Das ist schon ein schönes Gefühl, ja.»
2014 beendet Jens Voigt seine Karriere. Mit 17 Tour-Teilnahmen ist er Co-Rekordhalter, 14 Mal hat er die Frankreich-Rundfahrt beendet. Sein Abschied von der grossen Bühne könnte erfolgreicher nicht sein: Am 18. September 2014 stellt Voigt in Grenchen einen neuen Stundenweltrekord auf, ehe er sein Velo an den berühmten Nagel hängt. (tat)