«Shergar war das beste Pferd, das ich je trainiert habe und ich hoffe nur, dass ihm nichts zustösst.» Michael Stoute, der Trainer des Rennpferds, ist besorgt, als er am Tag nach der Entführung der BBC Auskunft gibt. Was Shergar widerfahren ist, bleibt offen, denn das Tier wird nie gefunden. Aber womöglich war es zum Zeitpunkt von Stoutes Aussage bereits tot.
Stoute hat einen von den Medien «Wunderpferd» getauften Vierbeiner betreut. Sein Husarenstück lieferte Shergar 1981 ab, als er bei der 202. Ausgabe des weltberühmten Epsom Derby triumphal abräumte. Mit dem 19-jährigen Walter Swinburn im Sattel siegte er mit einem Vorsprung von zehn Längen – Rekord für dieses seit 1780 ausgetragene Rennen, das eines der wichtigsten des Pferdesports ist.
«Ich hörte die Leute auf der Tribüne ‹Come on Lester!› rufen und war deshalb etwas beunruhigt», schilderte Swinburn später. «Ich habe ihm deshalb etwas die Peitsche gegeben, weil ich Lester Piggott mit seinem Pferd gleich hinter mir erwartete.» Doch ein kurzer Blick zurück zeigte dem Jockey: Da war nichts. Shergar war so hoch überlegen, dass der zweitplatzierte John Matthias auf Glint of Gold danach verriet, er habe sich schon am Ziel seiner Träume gewähnt – bis er am Horizont ein anderes Pferd entdeckte.
Piggott ist mit 4493 Siegen eine der grössten Jockey-Legenden. Über Shergar sagte er kurz vor seinem Tod: «Das war eines der besten Pferde des Jahrhunderts.» In einem Rennen vor dem Derby hatte Shergar in Chester sogar mit zwölf Längen Vorsprung gewonnen, in Sandown siegte er ebenfalls mit zehn Längen Vorsprung und nach dem Derby schlug er auch in Ascot zu, beim wichtigsten Rennen des Jahres, mit ebenfalls noch komfortablen vier Längen Vorsprung.
Shergar wurde zum «Europäischen Pferd des Jahres 1981» gewählt und ging in Rente. Wobei das bei solchen Genen natürlich bedeutet, dass er zum Zuchthengst wird.
Besitzer Aga Khan, ein angesehener religiöser Führer von rund 20 Millionen Menschen in 25 Ländern, verkaufte nach dem Sieg in Epsom Anteile am Pferd. Zehn Millionen Pfund (damals rund 35 Millionen Franken) kamen zusammen. Shergar wurde damit zum bis dahin teuersten Pferd der Geschichte.
Das Syndikat durfte mit hohen Einnahmen rechnen, die Deckgebühr betrug 80'000 Pfund. 17 Hengste und 19 Stuten kamen im Jahr, das Shergar als Deckhengst verbrachte, auf die Welt. Seine Nachkommen konnten nie an die Erfolge des Vaters anknüpfen und weitere Halbgeschwister gab es nicht. Vor dem zweiten Jahr mit der neuen Aufgabe verschwand Shergar.
Es war etwa halb neun Uhr abends am 8. Februar 1983, als drei Maskierte das Haus von Jim Fitzgerald betraten, dem Chefpfleger des Ballymany-Gestüts. Zwischen sechs und neun Männer seien es ingesamt gewesen, berichtete Fitzgerald, einer habe ihm gesagt: «Wir sind wegen Shergar hier. Wir wollen zwei Millionen Pfund für ihn.»
Mit einer Pistole bedroht begab sich Fitzgerald mit den Männern in die Stallungen und führte Shergar hinaus in einen Pferdetransporter. Von da an verlief die Spur im Sand. Mehrfach nahmen die Entführer in den Tagen darauf Kontakt mit den Besitzern um Aga Khan auf. Wie in einem Hollywood-Film liessen sie dem Syndikat dabei einmal Polaroid-Fotos zukommen, auf denen neben dem Kopf des Pferdes die tagesaktuelle Ausgabe der «Irish News» zu sehen war. Als Beweis dafür, dass Shergar noch lebte.
Die Besitzer waren sich uneins darüber, ob das Lösegeld bezahlt werden sollte. Viele von ihnen befürchteten für diesen Fall die Entführung weiterer Spitzenpferde und sie setzten sich durch. Es wurde nichts bezahlt.
Zwei Wochen lang suchten Polizisten in der Republik Irland und in Nordirland nach Shergar, doch sie fanden keine Spur zu ihm. Dafür hoben sie mehrere Waffen- und Sprengstoffverstecke der IRA aus, die für ein von Grossbritannien unabhängiges, vereinigtes Irland kämpfte.
Dass diese Organisation – für die eine Seite Paramilitärs, für die andere Terroristen – hinter dem Verschwinden des Wunderpferds steckte, wurde nie bewiesen. Es gab jedoch Indizien dafür und ein Polizeispitzel, der lange für die IRA tätig war, behauptete 1999, dass die Entführung tatsächlich von der Irish Republican Army durchgeführt worden war.
Noch etwas später sagte er, dass Shergar schon nach wenigen Stunden getötet worden sei. Die IRA habe wegen des erhofften Lösegelds die Täuschung aufrecht erhalten, dass das Pferd noch am Leben sei. Die Organisation bekannte sich nie zur Tat. 2008 beschrieb ein anderes IRA-Mitglied im «Telegraph» die Tötung in blutigen Details.
Shergars Leichnam wurde nie gefunden. Angeblich sollen seine sterblichen Überreste auf dem Bauernhof eines alten IRA-Veteranen unweit der inneririschen Grenze begraben worden sein. Zu Ehren des Vollblüters wurde 1999 der Shergar Cup aus der Taufe gehoben, eine Art «Ryder Cup des Reitens», der jedes Jahr in Ascot abgehalten wird.