Dies ist die Geschichte einer Stute, die mit ihrer Erfolglosigkeit ein Menschenleben gerettet und die Zukunft einer Rennbahn gesichert hat. Dies ist die Geschichte von Haru Urara, die 113 Mal angetreten war und 113 Mal nicht gewonnen hat.
Im Sommer 2003 stecken die Betreiber der Rennbahn der Stadt Kochi auf der Insel Shikoku in finanziellen Schwierigkeiten. Ideen sind gefragt, wie die Leute dazu gebracht werden können, die Rennen zu verfolgen und vor allem auf sie zu wetten und damit ihr Geld auf die Rennbahn zu bringen.
Masashi Yoshida steht als Marketingchef in der Pflicht. «Es war klar: Wenn die Rennbahn in die roten Zahlen rutscht, wird sie schliessen», erzählt Yoshida im Dokumentarfilm «The Shining Star of Losers Everywhere». Mit allerlei Vorschlägen für eine Story sei er auf Redaktionen zugegangen. «Ich musste die Medien irgendwie dazu bringen, über uns zu berichten.»
Eines Tages unterhält sich Yoshida mit dem Stadionsprecher Koji Hashiguchi. «Er erzählte mir von einem Pferd, das seit Jahren jedes einzelne Rennen verloren hatte. Ich war mir aber nicht sicher, ob eine Geschichte über das Verlieren so gut ist.»
Der Journalist Ken Ishii erkennt das Potenzial der Story, als er von der Erfolglosigkeit von Haru Urara erfährt. Als er erstmals darüber schreibt, hat die Stute, deren Name «Prächtiger Frühling» bedeutet, schon 88 Mal vergeblich versucht, zu gewinnen. Eine desaströse Bilanz, die in der Regel auf direktem Weg ins Schlachthaus führt.
Haru Urara bleibt dieses Schicksal erspart. Das scheue Pferd, das häufig schon beim kleinsten Geräusch verängstigt reagiert, hat das Glück, dass Dai Muneishi sein Trainer ist. Er könne es nicht mit ansehen, wenn ein Pferd zum Schlachter gebracht werde und es ihn mit traurigen Augen aus dem Anhänger anschaue, führt er aus. «Auch wenn sie kein Geld einbringt, kann ich sie nicht einfach töten», sagt Muneishi.
Ishiis Artikel trifft einen Nerv. Ein Pferd, das nie gewinnt, aber es trotzdem weiter versuchen darf? Bald kennt ganz Japan die Geschichte von Haru Urara, dem Rennpferd mit Hello-Kitty-Motiven auf der Haube. Das Land hat einen neuen Liebling.
Mehr und mehr Leute wollen das besondere Tier sehen. Sie kommen nach Kochi, kaufen sich ein T-Shirt mit der Aufforderung «Never Give Up» und drücken Haru Urara die Daumen. Wobei ein Sieg vieles vom Mythos, den das Pferd mit seiner Negativbilanz aufgebaut hat, zerstören würde.
Aber so weit kommt es nicht. Wieder und wieder verpasst Haru Urara einen Erfolg. Manchmal läuft sie zwar aufs Podest, aber nie reicht es für Platz 1. Und so hält sich das Pferd, mutmasslich ohne dies zu wissen, im Gespräch. Selbst der japanische Premierminister Junichiro Koizumi gibt sich als Fan zu erkennen und verleiht seiner Hoffnung Ausdruck, dass Haru Urara endlich einmal siegen kann. «Das Pferd ist ein gutes Vorbild dafür, nie aufzugeben», sagt Koizumi.
Tatsächlich lässt sich das Volk davon inspirieren. «Wir erhielten eine Menge Briefe von Leuten, die uns schrieben, wie ermutigend der Einsatz des Rennpferds für sie sei», schildert Marketingmann Yoshida. Es geht so weit, dass Trainer Muneishi einen Anruf erhält, in dem ihm jemand erzählt, er habe an Suizid gedacht, sich aber dank des Pferds anders entschieden. Zumindest diesen, wertvollen, Sieg erringt Haru Urara.
Im Dezember 2003 feiert die Stute ein Jubiläum: 100 Rennen ohne Sieg. Als Kanekome Hikari das Rennen über 1300 Meter gewinnt, landet Haru Urara auf Platz 9. Dabei haben die beiden vorherigen Starts die Hoffnung auf mehr geweckt: Da wurde sie jeweils Dritte.
Sechs Rennen später, Ende März 2004, erreicht der Hype einen neuen Höhepunkt. Denn da wird das Pferd von Yutaka Take geritten, der japanischen Jockey-Legende mit über 4000 Siegen. Er sollte das Unmögliche möglich und «Prächtiger Frühling» endlich einmal zur Siegerin machen.
Die Rennbahn in Kochi platzt aus allen Nähten. Es giesst in Strömen, doch just als das Rennen mit Haru Urara ansteht, kommt die Sonne zum Vorschein. Ein gutes Omen, aber letztlich wertlos. Denn was nützt der beste Reiter, wenn das Ross nicht will? Haru Urara verpatzt den Start und Yutaka Take kann noch so sehr versuchen, sein Können auszuspielen. Rang 10, weit vom Sieg entfernt.
Aber obwohl all die Leute, die auf sie gewettet hatten, ihr Geld verloren, jubeln sie der Stute nach dem Rennen zu. Haru Urara absolviert eine Ehrenrunde, die eigentlich dem Sieger vorbehalten ist. «Niemand interessierte sich dafür, wer tatsächlich gewonnen hatte», erinnert sich Stadionsprecher Hashiguchi. «Mir war bewusst, dass ich gerade Zeuge eines ganz besonderen Moments wurde.»
Es ist auch ein Moment, der ihm den Arbeitsplatz sichert. Denn insgesamt wird mehr als eine Million Dollar auf einen Sieg von Haru Urara gesetzt. Diese Wetteinnahmen bewahren die Rennbahn vor dem Konkurs.
Grösser als an diesem Tag kann der Hype nicht mehr werden. Noch sieben weitere Male steht die Stute am Start eines Rennens in Kochi. Am 3. August 2004 läuft sie zum 113. und letzten Mal, sie wird Fünfte.
«Wenn die Gesellschaft nur das Gewinnen schätzen würde, wäre das Leben ein ständiger Wettkampf», philosophiert Trainer Dai Muneishi. «Es gibt nur Sieger und Verlierer. Ein Krieg. Wenn du das Gefühl hast, dass du wirklich alles gegeben hast und dann verlierst, solltest du trotzdem Lob erhalten. Es gibt Pferde, die nicht alles geben. Aber Haru Urara hat bis zuletzt nie aufgegeben.» Für ihren Lebensabend durfte sie auf einen Hof in der Stadt Chiba.
2021 widmet die schottische Alternativ-Rock-Band Biffy Clyro dem Rennpferd einen Song. «Ich finde es einfach toll, dass ein Pferd, das jedes verdammte Rennen verloren hat, immer noch so viel Freude bereitet», sagt Frontmann Simon Neil bei NME. Nach der Corona-Pandemie sei das eine gute Metapher. «Alles scheint immer schlimmer zu werden, aber man weiss nie, was hinter der nächsten Ecke kommt. Es ist wichtig, dass man immer einen kleinen Anflug von Optimismus hat.»
Neil grinst, als er von seinen Landsleuten erzählt. «Die meisten Schotten fühlen sich sowieso die ganze Zeit wie Haru Urara: ‹Wir gewinnen nie, aber egal!›»
Es ist gut nur Mittelmass zu sein. Ständiges Siegen ist nicht möglich.
Aber ganz wichtig, nie den Mut verlieren und es wieder versuchen und sein bestes geben. Never give up!