Der Politikverdruss in Grossbritannien ist 2002 auf kommunaler Ebene gross. Nur ca. 35 Prozent gehen an die Urne. Mit verschiedenen Massnahmen soll dem entgegengewirkt werden. Die briefliche Abstimmung wird getestet und die Bürgermeister werden in einigen Städten direkt gewählt.
So auch in Hartlepool im Nordosten Englands. Die fast 100'000 Einwohner der Hafenstadt zwischen Newcastle und Middlesbrough dürfen direkt wählen. Der Labour-Partei gefällt das neue System nicht. Das gäbe Platz für unseriöse Kandidaten.
Ob Stuart Drummond vom Ärger der Labour-Partei weiss, ist unbekannt. Vermutlich nicht. Denn der 28-Jährige hat mit Politik wenig am Hut. Sie interessiert ihn nicht und Politiker hält er für langweilig.
Früher jobbte Drummond mal vier Jahre als Kellner auf einem Kreuzfahrtschiff, heute schlägt er sich mit den rund 1000 Euro, die er als Callcenter-Mitarbeiter verdient, durchs Leben. Daneben macht er sich als Maskottchen «H'Angus» bei seinem Herzensverein Hartlepool United jedes Wochenende wortwörtlich zum Affen. Denn H'Angus ist ein Affe, mit rundem Gesicht, abstehenden Ohren und heraushängender Zunge.
Den Job erhält er per Zufall. Nach einer trostlosen 1:3-Niederlage in Gillingham erzählt ihm ein Freund, dass der Job des Maskottchens frei werde und kein Kandidat in Sicht sei. Er bewirbt sich am nächsten Tag und erhält die Aufgabe mangels Alternativen.
Drummond liebt seinen Nebenerwerb, für den er 20 Pfund pro Auftritt bekommt. Die Fans des Drittligisten lieben ihn ebenfalls. Auch wenn kaum mehr als 5000 zu den Heimspielen im Victoria Parke im trostlosen Industriegebiet kommen. Bei (gegnerischen) Klubs – die Maskottchen fahren auch auswärts mit – ist H'Angus allerdings nicht beliebt.
2001 macht er gegen Blackpool mit einer Gummipuppe anstössige Hüftbewegungen – er fliegt aus dem Stadion. Wenig später imitiert er diese mit einer weiblichen Ordnerin in Scunthorpe – er fliegt aus dem Stadion («totaler Unsinn», meint Drummond dazu). Er sei jeweils betrunken gewesen, heisst es. Zwölf Stadionverbote vereint H'Angus insgesamt.
Alkohol hat Drummond auch intus, als er mit Freunden im Stammpub «Gillen Arms» über sein Team, den Klub und überhaupt die ganze Stadt klagt. «Natürlich waren wir betrunken», erinnert sich Drummond Jahre später. Die Truppe am Stammtisch ist sich einig: Es müsse endlich mal was geschehen. Einer bringt den Affen als Bürgermeister-Kandidaten ins Gespräch. Sie lachen. Niemand glaubt an eine Chance. Aber die Idee ist geboren.
Drummond fragt beim Klub an, ob er ein 500-Pfund-Darlehen erhalte, um die Bewerbung zu hinterlegen. Klubchef Ken Hodcroft willigt ein, sagt aber, dass der Klub sonst nichts mit Politik zu tun haben wolle. Drummond dürfe das Kostüm tragen, muss aber als Privatperson kandidieren.
Eine wirkliche Kampagne hat Drummond nicht. Er verteilt in der Fussgängerzone als Affe verkleidet Bananen, in einigen Schaufenstern hängen Plakate mit seinem Wahlslogan: «Gratis Bananen für alle Schulkinder». An Wahlveranstaltungen werden in der Regel nur seine vier Konkurrenten eingeladen. «Die dachten, ich hätte keine Chance. Das dachte ich ja auch», sagt er. Beim Wettbüro liegt die Quote bei 10'000:1. Als er und seine Freunde auf seine Wahl 10 Pfund wetten wollen, zieht der Buchmacher das Gebot aber zurück.
Trotzdem wird er schnell zum Stadtgespräch, gibt ein Interview nach dem anderen und nach regionalen Zeitungen besuchen ihn bald auch die nationalen Medien in Englands Norden. «Da kam etwas ins Rollen. Ich musste gar nicht viel tun», blickt Drummond zurück. Er wollte doch nur etwas Werbung für seinen «völlig unspektakulären Klub» machen.
Am Abend vor der Wahl hätte Drummond dann die Chance gehabt, beim letzten Streitgespräch mit allen Kandidaten in der Stadthalle mitzudiskutieren. Sein Problem: Am gleichen Tag findet in Cheltenham das Rückspiel in den Aufstiegsplayoffs statt. «Ich habe lange überlegen müssen», erinnert er sich.
Dann entscheidet er sich für das Spiel seiner «Pools» und schickt seinen jüngeren Bruder an die Wahlveranstaltung. Dieser besorgt sich im Fanshop einen kleinen Plüsch-Affen, setzt ihn ans Rednerpult und entschuldigt sich für die Abwesenheit von Drummond mit den Worten: «Mein Bruder kann nicht kommen. Er unterstützt die Stadt an anderer Stelle.»
Das Playoff-Rückspiel endet 1:1 und Hartlepool verliert im Penaltyschiessen 4:5. Der Aufstiegstraum ist geplatzt. Aber H'Angus der Affe wird mit 52,1 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister von Hartlepool gewählt. Mit 5696 Stimmen lässt er den Kandidaten der Labour-Partei (5174 Stimmen) hinter sich. «Ich war geschockt. Wir wären fast geplatzt vor Lachen», erzählt Drummond später.
Er wird zum jüngsten Bürgermeister Grossbritanniens und erklärt seinen Sieg so: «Es hat alles gepasst. Viele wollten eine Veränderung oder wählten mich aus Protest. Andere waren Fans von United.» Die anderen Parteien ärgern sich masslos. Sie fordern, dass das Wahlsystem überdacht und angepasst wird. Doch vorerst geschieht nichts.
Medien aus aller Welt berichten vom Affen, der Bürgermeister wurde. Ein Reporter verkleidet sich als Gorilla und streckt Drummond bei Interviews Bananen unter die Nase. Er ignoriert dies. Denn das Amt des Maskottchens legt er umgehend nieder. Neu verdient Drummond rund 86'000 Euro jährlich und verwaltet ein Stadt-Budget von über 100 Millionen Euro.
Fan des Klubs bleibt er natürlich. Weiterhin besucht der neue Bürgermeister die Partien seiner «Pools» auf der Stehtribüne und zieht mit seinen Jungs durch die Gassen. Dabei merkt er allerdings, dass er aufpassen muss. Als er eines Abends auf so einem Ausflug in einem Stripclub landet, berichten am nächsten Tag die Zeitungen vom «Sexskandal um den Bürgermeister».
Drummond beweist aber auch, dass er durchaus etwas drauf hat. 2005 wird er mit doppelt so vielen Stimmen wiedergewählt; 2009 wird er zum ersten direkt gewählten englischen Bürgermeister, der eine dritte Amtszeit antreten darf; 2010 steht er im Final der «World Mayor»-Auszeichnung. 2013 tritt der Parteilose zurück, weil die Labour-Partei eine Abstimmung durchbrachte, dass der Bürgermeister nicht mehr direkt gewählt wird. So endet die politische Karriere Drummonds.
Übrigens: Nachfolgerin als H'Angus wird Ceri Anderson, die sich gegen zwölf andere Kandidaten durchsetzt. Ihr siebenjähriger Sohn Ralf habe die Idee gehabt. Anderson sagt: «Ich bin Fan des Klubs und will nicht in die Politik.» Hartlepool United spielt mittlerweile in der fünfthöchsten englischen Liga. Es ist wieder trostlos wie damals 2002. Oder vielleicht noch etwas schlimmer.