Sport
Unvergessen

Schach-WM von 1978: Als ein Hypnotiseur die Weltmeisterschaft entschied

(Original Caption) Philippines: Anatol Karpov (R), with challenger Viktor Korohnoi in World Chess Match 7/30, at Baguio, Philippines.
Kortschnoi, sein Stuhl, seine Brille und Anatoli Karpow. Sie alle spielen an der Schach-WM 1978 eine wichtige Rolle.Bild: Bettmann
Unvergessen

Der Schachkrieg von 1978: Als ein Hypnotiseur die Weltmeisterschaft entschied

Von Juli bis Oktober 1978 spielte der Wahlschweizer Wiktor Kortschnoi um den Titel als Schachweltmeister. Gegen Anatoli Karpow. Und dessen Hypnotiseur.
18.10.2022, 00:0218.10.2022, 15:09
Mehr «Sport»

Im Eishockey, in der Raumfahrt und in den Rocky-Filmen: Während des Kalten Krieges duellierten sich die USA und die Sowjetunion (UdSSR), wo immer es nur ging, mit besonderer Verbissenheit – stets getrieben vom Versuch, die Überlegenheit des eigenen Systems zu demonstrieren. Wer brachte die erfolgreicheren Söhne und Töchter hervor?

Auch im Schach, der Denksport-Königsdisziplin, bekriegten sich die USA und die Sowjetunion. 1972 besiegte der Antikommunist Bobby Fischer den Sowjetrussen Boris Spasski im «Match des Jahrhunderts» und holte für die USA die Krone des Weltmeisters ins Land der unbeschränkten Möglichkeiten. Doch der unbequeme Fischer verzichtete 1975 auf eine Titelverteidigung. Er hatte nach seinem Weltmeistertitel nur noch zwei öffentliche Partien gespielt. Eine davon gegen den philippinischen Diktator Marcos (Unentschieden nach acht Zügen). Damit war die Bahn frei für Anatoli Karpow.

Anatoli Karpov en 1978 à Paris, France. (Photo by François LOCHON/Gamma-Rapho via Getty Images)
Karpow 1978 in Paris.Bild: Gamma-Rapho

Karpow entsprach dem westlichen Stereotyp eines sowjetischen Parteisoldaten: stoisch, berechnend, gnadenlos – und hochintelligent. In seinen Jugendjahren fiel er aufgrund seines vorsichtigen Spielstils bei den Talentspähern durch. Doch Karpow gewann: mit 18 Jahren die Juniorenweltmeisterschaften und später auch das Ausscheidungsturnier für die Weltmeisterschaften. Als Fischer diese absagte, wurde Karpow 1975 kampflos Weltmeister.

Der weltweit klügste Stratege war offiziell wieder ein Sowjetrusse. Das sollte und musste auch so bleiben. Dafür wollte die kommunistische Partei schon sorgen.

SEP 14 1977, SEP 15 1977 ***** At The Quality Inn State Chess Association. He will play former world champion Boris Spassky in candidate finals. Of 32 total games Korchnoi played Wednesday, he won 26, ...
Wiktor Kortschnoi 1977 in Denver, USA.Bild: Denver Post

1978 trat Karpow zur ersten Titelverteidigung an. Sein Gegner war ein alter Bekannter: Wiktor Kortschnoi. Bereits im Finale für die Qualifikation zur WM hatten sich die beiden duelliert. Der junge Karpow gewann knapp gegen den 20 Jahre älteren Landsmann 12,5 : 11,5. Doch die Vorzeichen hatten sich geändert.

Wiktor Kortschnoi, der Regimegegner, hatte sich 1976 bei einem Turnier in Amsterdam in den Westen abgesetzt. Er hatte sich geweigert, die sowjetische Nationalhymne zu singen und er kritisierte offen die Überwachung sowjetischer Schachspieler durch den Geheimdienst KGB. Nach einem Jahr in den Niederlanden zog er 1978 in die Schweiz und bat um Asyl. Weiterhin in der Sowjetunion mussten seine Frau und sein Sohn verbleiben. Ihnen war die Ausreise verweigert worden. Kortschnoi sprach später davon, dass sie als Geiseln gehalten wurden. Auch über seinen Gegner Karpow wusste der Wahlschweizer nur wenig Schmeichelhaftes zu berichten: «Er ist ein Stiefellecker des Regimes», sagte er kurz vor der WM in einem Interview mit «Sports Illustrated». «Er ist gefühllos und staubtrocken. Er verdient den Weltmeistertitel nicht.» Für die Sowjets war Kortschnoi schlimmer als jeder Amerikaner – er war ein Verräter. Gegen diesen Mann durfte Karpow, durfte das System nicht verlieren.

Kortschnoi seinerseits kannte den russischen Schachverband aus dem Effeff. Er befürchtete ein Komplott – wie sich später herausstellte, nicht ganz unbegründet. Doch auch Kortschnoi hatte seine Mätzchen auf Lager. Und die begannen bereits bei der Eröffnungszeremonie.

Das Orchester in der eigens errichteten Schachhalle von Baguio City, Philippinen, spielte anstelle der sowjetischen Hymne die «Internationale». Ein erster Aufreger, aber wie es sich gehört, erhoben sich Karpow und sein Team von ihren Plätzen. Kortschnoi hingegen lehnte sich mit genüsslichem Grinsen in seinem Stuhl zurück. Dieses sollte ihm allerdings bald vergehen. Denn neben ihm stand, mit stechendem Blick, Dr. Suchar.

Karpow (l.) neben Schachweltverbandspräsident Max Euwe und Diktator Marcos. Sitzend: Wiktor Kortschnoi und seine Managerin und spätere Ehefrau Petra. Am Bildrand: Hypnotiseur Dr. Suchar.
Karpow (l.) neben Schachweltverbandspräsident Max Euwe und Diktator Marcos. Sitzend: Wiktor Kortschnoi und seine Managerin und spätere Ehefrau Petra. Am Bildrand: Hypnotiseur Dr. Suchar.

Noch vor dem ersten Zug begannen die Schikanen. Die sowjetische Delegation verlangte, dass Kortschnois Stuhl, ein Stollgiroflex, von der Schweiz in die Philippinen gebracht, untersucht werde. Im Operationssaal eines Spitals wurde die Sitzgelegenheit fein säuberlich auseinandergenommen, vom Röntgengerät durchleuchtet und danach wieder zusammengebaut. Gefunden wurde (natürlich) nichts.

Nach einem ereignislosen Remis in der ersten Runde überstürzten sich die Ereignisse im zweiten Aufeinandertreffen. Gegen Ende der Partie wurde Karpow – ohne dessen Zutun, aber auf Veranlassung seines Teams – ein violettfarbenes Blaubeer-Joghurt gereicht. Kortschnoi protestierte. Er vermutete hinter der verdickten Milch eine versteckte Botschaft. Ausserdem untersagten die Regeln des Schachverbandes die Überbringung von Nahrungsmitteln und anderen Gegenständen. Schiedsrichter Lothar Schmid entschied daraufhin, dass Karpow täglich Punkt 19:15 Uhr ein violettes Joghurt zu sich nehmen dürfe. Sollte die Farbe oder die Geschmacksrichtung abweichen, sei das im Vorfeld zu deklarieren. Damit war das Thema aber noch nicht gegessen: «Nach jedem Joghurt spielte Karpow mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs», erklärte Kortschnoi später seine Vermutung, das Nahrungsmittel sei mit Steroiden (Cortison) versetzt gewesen. Doch Kortschnoi liess sich nicht nur durch die Joghurts ablenken.

Der Herausforderer fühlte sich während der Partien durch die Blicke seines Kontrahenten belästigt. Karpow war berüchtigt dafür, während der Denkpausen seinen Gegner anzustarren. Eine Fähigkeit, welche auch Dr. Suchar bis zur Perfektion beherrschte. Der Parapsychologe und Hypnotiseur sass für die Sowjets in der ersten Zuschauerreihe. Er hatte die Aufgabe, Kortschnoi mit seinen Blicken zu irritieren. Doch dieser drehte den Spiess um. Einerseits trug er von nun an eine verspiegelte Sonnenbrille, andererseits rief er seine Anhänger dazu auf, sämtliche Gedanken an den Spieltagen jeweils um 17.00 Uhr auf Dr. Suchar zu richten, um so seine Schwingungen zu zerstören. Karpow legte daraufhin Protest ein und die beiden Teams einigten sich auf einen Kompromiss. Die Sonnenbrille kam weg und der Hypnotiseur durfte nur noch in den hinteren Reihen Platz nehmen.

Dr. Suchar in den Zuschauerreihen. Anatoli Karpow distanzierte sich später von ihm und nannte ihn einen Scharlatan.
Dr. Suchar in den Zuschauerreihen. Anatoli Karpow distanzierte sich später von ihm und nannte ihn einen Scharlatan.

Vor der achten Partie verweigerte Karpow seinem Gegenüber den Handschlag: «Nie, nie mehr werde ich Ihnen die Hand geben», soll er dabei gesagt haben. Kortschnoi spiele unanständig. Das Manöver wirkte: «Ich spielte danach wie ein Kind», erklärte Kortschnoi gegenüber Garry Kasparow. Karpow kam zu einem ersten Sieg.

In der elften Partie glich Kortschnoi zum 1:1 aus, doch schon zwei Partien später gewann Karpow mit Schwarz und gleich darauf mit Weiss. Die Nerven bei Kortschnoi lagen blank. Während der 17. Partie verlangte der Herausforderer, dass Hypnotiseur Suchar aus dem Saal entfernt werde. WM-Organisator Florencio Campomanes, ein mutmasslicher KGB-Agent, liess darauf die sieben ersten Zuschauerreihen räumen, Suchar setzte sich in die achte Reihe. Für Kortschnoi war das nahe genug. Er enervierte sich derart, dass er eine aussichtsreiche Stellung verspielte und die 17. Partie sogar noch verlor. Karpow führte 4:1. Ihm fehlten nur noch zwei Siege zur Weltmeisterschaft. Doch so leicht gab sich Wiktor Kortschnoi nicht geschlagen.

Viktor Korchnoi watches as Anatoly Karpov makes a move during the World Chess Championships. Karpov would go on to win the tournament, easily defeating Korchnoi, 11-7, in what became known as the Mass ...
Auch in späteren Partien gegen Karpow, hier 1981 beim «Massaker von Merano», trug Kortschnoi gerne eine verspiegelte Sonnenbrille.Bild: Corbis Historical

Der Wahlschweizer verlangte ein Time-Out und setzte sich nach Manila ab, wo er sich vom Yoga neue Kräfte erhoffte. Zurück kam er nicht allein. Er brachte zwei amerikanische Mitglieder der indischen Sekte Amanda Marga mit, die Suchars Machenschaften entgegenwirken sollten. Ex-Weltmeister Kasparow beschreibt die Szene im siebten Band von «Meine grossen Vorkämpfer»: «Sie mussten nur die Halle betreten und sich im Lotussitz hinsetzen, da passierte etwas mit Suchar. Zuerst bedeckte er sein Gesicht mit einem Taschentuch. Nach einer kurzen Weile verliess er die Halle und kam nicht mehr zurück.» Und was geschah am Brett? Kortschnoi gewann die 21. Partie.

Da griff Campomanes erneut ein. Bei den beiden Sektenmitgliedern handele es sich um mutmassliche Mörder eines indischen Diplomaten, welche nur auf Kaution frei seien, behauptete der Organisator. Sie erhielten Hausarrest und Kortschnoi war seine spirituelle Hilfe wieder los. Doch auch von Hypnotiseur Suchar war nichts mehr zu sehen. In Abwesenheit der stechenden Augen des Parapsychologen hatte Kortschnoi nun einen Lauf. In der 31. Partie gelang ihm der Ausgleich zum 5:5. Es fehlte nur noch ein Sieg.

Nun entschied sich Karpow, ein Time-Out zu nehmen. Er gab später zu, in dieser Zeit kaum mehr ruhig geschlafen zu haben, und es gab Gerüchte, dass auch er mit dem Gedanken spielte, sich in den Westen abzusetzen. So sehr soll er sich vor möglichen Strafen im Falle einer Niederlage gefürchtet haben. Doch es kam anders.

Der unvoreingenommene Hauptschiedsrichter Lothar Schmid musste plötzlich abreisen, angeblich wegen dringender Geschäfte. Er wurde durch den tschechoslowakischen Sowjet-Sympathisanten Dr. Miroslav Filip ersetzt. Auch der damalige Präsident des Weltverbandes, der Niederländer Max Euwe, reiste ab – ausgerechnet vor der wichtigsten Partie der letzten Jahre. Gleichzeitig wurden Kortschnois Yogalehrer von der Polizei aus dessen Villa entfernt.

Dafür sass Hypnotiseur Suchar plötzlich wieder in der vierten Reihe, bewacht von sowjetischen Funktionären. Die Ereignisse der letzten Stunden warfen Kortschnoi dermassen aus der Bahn, dass er nach einem katastrophalen Beginn am zweiten Tag der Partie nicht mehr antrat. Trotz der Aufgabe weigerte er sich, das Resultat anzuerkennen. Die Organisatoren setzten Kortschnoi allerdings mit einem Trick schachmatt: Sein Scheck über 200'000 Dollar – eine Rekordsumme für einen Verlierer bis dahin – enthielt den Zusatz, dass mit seiner Einlösung das Resultat akzeptiert werde.

Karpow, der nun offiziell als 6:5-Sieger feststand, wurde später zusammen mit zehn weiteren Schachfunktionären mit dem Orden des Roten Banners geehrt. Unter den Ausgezeichneten befand sich auch Dr. Suchar.

Während sich der unheimliche Parapsychologe in der Nähe der Bühne befand, gewann Karpow fünf Spiele und verlor nur ein einziges. Als Suchar weg war, gewann Kortschnoi vier Spiele.

Der frühere Weltmeister Michail Tal, einer von Karpows Helfern, gab später gegenüber dem Unterlegenen zu, dass die Sowjetunion für den Fall eines Sieges des Abtrünnigen gewappnet gewesen wäre: «Dort, in Baguio, fürchteten wir dich alle. Wenn du gewonnen hättest, hättest du eliminiert werden können. Alles war dafür vorbereitet.»

Die beiden gegensätzlichen Spieler trafen an der Schach-WM 1981 erneut aufeinander. Karpow gewann in seiner Blütezeit gegen den Altmeister beim «Massaker von Merano» klar und deutlich 11:7.

Wiktor Kortschnoi starb 2016 in Wohlen. Er gilt bis heute als der beste Schachspieler, der nie Weltmeister wurde. Anatoli Karpow fand später seinen Meister in Garry Kasparow. Ironischerweise ebenfalls ein Regimekritiker. Und während Kasparow heute als einer von Putins schärfsten Kritikern gilt, sitzt Karpow für dessen Partei in der Duma.

Siebenjähriger spielt Schach gegen Roboter – dann passiert es

Video: watson/Fabian Welsch
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Die Gesichter des Protestes gegen das Regime in Iran
1 / 19
Die Gesichter des Protestes gegen das Regime in Iran
Der Auslöser für die Proteste war der Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini. Die 22-Jährige starb wohl, weil sie ihr Kopftuch nicht so getragen hatte, wie die iranischen Mullahs und das iranische Gesetz es für Frauen vorsehen. Die genauen Umstände ihres Todes sind noch unklar. Amini wurde zu einer Ikone im Kampf für Freiheit.
quelle: keystone / abedin taherkenareh
Auf Facebook teilenAuf X teilen
So spielt man Schach, wenn man nicht atmen darf
Video: srf
Das könnte dich auch noch interessieren:
14 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
14
Olympia in Paris war sein Ziel: Marathonläufer Adrian Lehmann ist gestorben

Der Marathonläufer Adrian Lehmann ist an den Folgen des Herzinfarkts, den er in der Vorbereitung auf den Zürich-Marathon erlitt, am Samstagabend verstorben. Dies bestätigt Swiss Athletics.

Zur Story