6797 Athletinnen und Athleten pilgern 1984 nach Los Angeles, um sich eine der 663 olympischen Medaillen zu sichern. Bei der Eröffnungsfeier am 28. Juli im Memorial Coliseum stiehlt ihnen ein Amerikaner die Show – und das obwohl er mit Sport rein gar nichts am Hut hat. Bill Suitor, der «Rocketman», wird mit seinem spektakulären Auftritt zum Gesprächsthema Nummer 1.
Vor 100'000 staunenden Zuschauern im Stadion und Abermillionen an den TV-Bildschirmen segelt Suitor im goldenen Anzug mit einem Raketenrucksack durch die Luft. Nach einer eleganten Kurve landet der Profipilot sanft auf der Tartanbahn und wird frenetisch gefeiert. Als Belohnung für seinen Stunt erhält er 1000 US-Dollar – Olympia-Tickets liegen leider nicht mehr drin.
Unter den Zeugen der Performance ist auch Gaby Andersen-Schiess. Kaum einer im Stadion kennt die 39-jährige schweizerisch-amerikanische Doppelbürgerin zu diesem Zeitpunkt, doch acht Tage später gehen ihre Bilder um die ganze Welt. Sie machen den Raketenmann vergessen.
Zumindest in der Schweizer Leichtathletikszene hat sich die Skilehrerin in den 70er-Jahren einen Namen als Mittelstreckenläuferin gemacht. 1972 wird sie Landesmeisterin über 3000 Meter. Ein Jahr später klassiert sie sich über 1500 und 3000 Meter sowie im Crosslauf jeweils auf dem zweiten Platz und wendet sich dann dem Marathon zu. In der für Frauen jungen Disziplin bricht sie bis 1978 drei Mal die Schweizer Bestmarke.
Mit 33 hängt Andersen die Laufschuhe an den Nagel. Dort bleiben sie aber nicht lange. Nach vier Jahren Pause packt sie der Ehrgeiz erneut. Ihr grosses Ziel ist die Teilnahme am ersten olympischen Marathonlauf der Frauen in Los Angeles. Aus den USA, wohin sie ausgewandert ist, bewirbt sich Andersen per Brief beim Schweizer Leichtathletikverband und wird als einzige Athletin für die Erstauflage selektioniert.
Der Rest ist Olympia-Geschichte. An die erste Goldmedaillengewinnerin, Joan Benoit, die sich 17 Tage vor den Spielen einer Knieoperation unterziehen musste, kann sich ausserhalb ihrer Heimat USA heute kaum mehr jemand erinnern. Gaby Andersen-Schiess' dramatischer Finish jedoch hat sich für alle Ewigkeit ins kollektive Gedächtnis der Zuschauer eingebrannt.
Für die verhältnismässig unerfahrene Schweizerin, die bis zur Olympia-Teilnahme 20 Marathons gefinisht hat, beginnt bei Kilometer 40 eine hochdramatische Leidenszeit. Andersen verpasst den letzten Verpflegungsstand und muss sich bei 35 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von über 90 Prozent ohne Wasser über die letzten zwei Kilometer zum Coliseum schleppen. Dort nimmt sie völlig ausgedörrt vor 77'000 Zuschauern die letzte Runde auf der Tartanbahn in Angriff. Geschlagene sieben Minuten dauert Andersens Leidensweg auf diesen 500 Metern.
Auf der Zielgeraden läuft Gaby Andersen-Schiess nicht mehr, sie schwankt und torkelt bloss noch. Sie hat die Kontrolle über ihre Beine verloren – die Körperhaltung erinnert an eine Marionette, bei der die Fäden durchgeschnitten wurden.
Am Ende ihrer Kräfte und völlig dehydriert quält sie sich wie in Trance in Schlangenlinien über die letzten Meter. Die Kamera hält gnadenlos drauf und dem Publikum stockt bei diesem grausamen Anblick der Atem. Die Schweizerin weigert sich aufzugeben, stösst Ärzte und Helfer weg und kommt nach 2:48:12 Stunden mit 20 Minuten Rückstand als 37. ins Ziel. Dort bricht sie in den Armen der herbeigeeilten Helfer zusammen.
Später erinnert sich Andersen-Schiess an diese dramatische letzte Runde: «Ich dachte, im Stadion gibt es sicher irgendwo Wasser, aber es war keines vorhanden. Dann sagte ich mir, so lange ich laufen kann, komme ich ins Ziel. Ich war überzeugt, dass ich es schaffen würde. Es war keine Frage des Mutes, sondern des Willens.»
Das Thermometer misst bei der Läuferin lebensbedrohliche 41,2 Grad Körpertemperatur – und das nachdem sie bereits mit einem Wasserschlauch abgespritzt und in nasse Tücher gewickelt wurde. Bei den Ärzten bricht Hektik aus. Sie verfrachten die Patientin in die Stadionkatakomben und kühlen sie mit Eis. Der Ehemann von Andersen-Schiess kommt hinzu. Er muss hilflos zusehen, wie die Mediziner um das Leben seiner Frau kämpfen und ihr intravenös Flüssigkeit und Nährstoffe verabreichen.
Nach zwei Stunden ist der Spuk vorbei. Andersens Werte haben sich normalisiert und die Ärzte geben Entwarnung. Und wie es sich für eine richtige Heldin gehört, sitzt Gaby Andersen-Schiess schon zehn Stunden nach dem Drama quietschfidel in einer Talkshow und spricht über ihre unfassbare Willensleistung. Marathonläuferinnen sind eben wie Raketenmänner – alles, nur nicht ganz normal.
Oh, ja, ich erinnere mich heute noch daran. Wenn nur schon irgendwo das Wort Marathon auftaucht, fällt mir das wieder ein. Und das Video oben zeigt nur zwei der letzten Minuten.
Sass damals als Schülerin vor dem TV, und fragte mich, warum man ihr nicht hilft, und warum sie sich nicht helfen lässt. Meine Mutter meinte nur, sind ja Helfer da, die werden schon wissen, obs noch geht.
Dass sie Schweizerin ist, wusste ich nicht einmal (mehr), aber evt haben wir deshalb überhaupt geschaut.