Nicht immer beginnen grosse Karrieren im Sport mit einem epochalen Sieg, einer symbolischen Wachablösung, noch seltener auf einer der ganz grossen Bühnen. Meistens kündigen sie sich wie ein Wetterumbruch und mit einem fernen Donnergrollen an. Wie im Falle von Roger Federer.
Zwei Mal hatte er einen Final verloren. Den ersten Mitte Februar 2000 in Marseille mit 6:2, 3:6, 6:7 (5:7) gegen den zehn Jahre älteren Marc Rosset. Bei der Siegerehrung weinte Federer bittere Tränen, weil er meinte, er wisse nicht, ob er es noch einmal in einen Final schaffe. «Ich sagte ihm, er solle aufhören, zu weinen. Er sei noch jung und werde sicher noch viele Titel gewinnen», erinnert sich Rosset.
Wie viele es werden sollten, konnte aber auch der Genfer nicht ahnen. Zumal Federer acht Monate später bei den Swiss Indoors Basel, dem Turnier, bei dem er früher als Balljunge im Einsatz gestanden war, und bei dem er 2019 seinen 103. und bislang letzten Titel gewann, erneut im Final scheitern sollte. Diesmal verlor er im fünften Satz.
Roger Federer war in einem Sport, der nur wenige Sieger kennt, oft der erste Verlierer. Denn im September hatte er bei seinen ersten Olympischen Spielen in Sydney zwei Chancen auf einen Medaillengewinn nicht nutzen können. Er verlor den Halbfinal und danach auch das Spiel um Bronze.
Erst dann wurde aus Roger Federer ein Sieger. Nicht in Wimbledon, nicht in Paris, nicht in New York. Sondern in Mailand. Am Sonntag, 4. Februar 2001 gewann er seinen ersten Titel auf der ATP-Tour. Im Final bezwang er den unbekannten Franzosen Julien Boutter (ATP 67) nach 2:17 Stunden Spielzeit mit 6:4, 6:7 (7:9), 6:4.
Sein Meisterstück hatte er aber am Tag zuvor abgeliefert, als er den russischen Olympia-Sieger Jewgeni Kafelnikow (ATP 7) in drei Sätzen bezwungen hatte. Für Roger Federer war der Turniersieg keine Offenbarung, auch kein Grund für Euphorie, sondern vielmehr eine Erlösung. Nach dem Erfolg sagte er:
Erleichtert waren auch die aus Basel angereisten Eltern. Mutter Lynette drückte eine Träne weg, Vater Robert machte Fotos fürs Familienalbum. Bis heute sammelt er Zeitungsausschnitte, die den Aufstieg seines Sohnes zum Weltstar dokumentieren. Was in den Jahren danach fast zur Routine wurde, war damals auch für die Eltern aussergewöhnlich. In der Aufregung hatte Vater Robert den Autoschlüssel im Wagen eingeschlossen. Er musste deshalb die Scheibe einschlagen, um an den Schlüssel zu kommen. Mit offener Scheibe – inklusive Siegerpokal, aber ohne Roger – fuhr er dann nach Hause. Der Sieger selber hatte es wärmer, er nahm das Flugzeug.
Am späten Sonntagabend wurde Federer am Flughafen Basel-Mulhouse von seinen Davis-Cup-Kollegen und Captain Jakob Hlasek mit einer Champagner und einem Ständchen empfangen. «Was sie eigentlich gesungen haben, habe ich nicht mitbekommen. Aber es war jedenfalls eine freudige Überraschung mehr an diesem Tag», erinnerte sich Federer. Die Nacht auf Montag verbrachte er bei den Eltern in Münchenstein, ehe er am Tag darauf ins Swissôtel umzog, obwohl das Hotel weiter weg liegt von der St. Jakobs-Halle, «weil ich so schnell wie möglich zum Team wollte», wie er sagte. Am Wochenende darauf führte er die Schweiz in der ersten Runde des Davis Cups mit zwei Einzel-Siegen zum Erfolg gegen die USA.
Dabei hing auch der Erfolg in Mailand an einem seidenen Faden. Am Tag vor den Viertelfinals hatten Federer plötzlich grosse Schmerzen geplagt, die er mit Tabletten bekämpfen musste. Den Weisheitszahn, der dafür verantwortlich war, liess Federer sich aber erst einige Zeit später ziehen.
2001 war das Jahr, in dem Federer den Nachweis erbrachte, ein Sieger zu sein. Bei den French Open erreichte er die Viertelfinals, im Monat darauf auch in Wimbledon, wo er in den Achtelfinals den damaligen Rekordsieger Pete Sampras in fünf Sätzen hatte bezwingen können und dessen 31 Spiele währende Ungeschlagenheit im Südwesten Londons beendet hatte. Doch es sollte noch zwei weitere Jahre dauern, ehe Federer an gleicher Stelle in den Tennis-Olymp aufsteigen sollte. 2003 war es, als er in Wimbledon als erster Schweizer Mann einen Grand-Slam-Titel im Einzel gewann.
20 Jahre später gilt Roger Federer als einer der erfolgreichsten Spieler der Tennis-Geschichte: 103 Turniersiege, 20 Grand-Slam-Titel, darunter acht in Wimbledon und mindestens einer bei allen vier Grand-Slam-Turnieren, Gold und Silber bei Olympischen Spielen, 310 Wochen an der Spitze der Weltrangliste, Davis-Cup-Sieg mit der Schweiz. Hätte er damals, 2001 in Mailand, gedacht, dass das alles möglich wäre? «Nein. Nie. Ich war einfach ein normaler Junge, der in Basel aufwuchs und davon träumte, Tennisprofi zu werden», sagte er 2017 nach seinem letzten Erfolg in Wimbledon.
Längst geht seine Strahlkraft über den Tennis-Zirkus hinaus. Er spielt mit dem königlichen Nachwuchs Grossbritanniens Tennis. Bei seinen Spielen sitzt Vogue-Chefin Anna Wintour in seiner Box. Er besucht die Oscar-Verleihung. Geht zu Modenschauen und Filmpremieren. Er war Gast bei Staatspräsidenten und sprach vor der UNO-Vollversammlung. Er ist auf Du und Du mit den Grossen, den Mächtigen und den Reichen dieser Welt.
Aber er ist eben auch einer, der allen Menschen auf Augenhöhe begegnet. Ist er in der Schweiz unterwegs, ist er «Roger». Am liebsten ist es ihm, wenn er geduzt wird. Er ist bodenständig und doch weltmännisch. Bescheiden und doch selbstbewusst. An einem Tag elegant mit Fliege auf dem roten Teppich, am Tag darauf mit Wanderschuhen in den Bergen. Ein Weltreisender und doch durch und durch Schweizer. Immer den Werten verpflichtet, die ihn seine Eltern gelehrt haben: Bescheidenheit, Demut, Respekt. Einer, der Bekanntheit nie mit Bedeutung verwechselt.
Federer ist inzwischen Ehemann, vierfacher Vater, Präsident einer Stiftung, die Millionen von Kindern in den ärmsten Regionen Afrikas Zugang zu Bildung verschafft. Roger Federer aus Münchenstein, wohnhaft in Dubai und Valbella, ist aber auch immer noch Tennis-Spieler, auch wenn er wegen zweier Operationen am Knie seit über einem Jahr kein Spiel mehr bestritten hat und im August seinen 40. Geburtstag feiert. Im März will er bei einem Turnier in Katar zurückkehren. Gegenüber dem Schweizer Fernsehen sagte er: «Ich würde gerne nochmals grosse Siege feiern können, und dafür bin ich bereit, einen langen, harten Weg zu gehen.»
Und Federer sagt, was er wohl schon damals, im Februar 2001, in Mailand gesagt hätte: «Ich spiele einfach für mein Leben gerne Tennis.»