Die Themen, welche die NZZ am 6. Februar 1976 auf ihrer Frontseite abhandelt? Ein Kolonialkonflikt in Dschibuti, eine Regierungskrise in Italien, deutsche Wirtschaftshilfe für Portugal. Und ganz klein wird als Randnotiz auf einen Bericht im Sport-Teil verwiesen:
Bernhard Russi winkt in Innsbruck eine historische Chance. Vier Jahre nach seinem Olympiasieg im fernen Sapporo könnte der Schweizer ein zweites Mal Gold in Abfahrt gewinnen. Das hatte vor ihm noch keiner geschafft – und es gelingt bis zum heutigen Tag keinem. Russi stellt in der dritten von vier Trainings die Bestzeit auf, bei der letzten Fahrt zieht er nicht mehr voll durch.
Doch der Favorit ist nicht der Sieger von 1972, sondern ein 22-jähriger Kärntner: Franz Klammer. Er ist in grosser Form, hat in diesem Winter schon die Abfahrten von Madonna di Campiglio, Wengen, Morzine und Kitzbühel gewonnen. Nach dem Abschlusstraining habe er jedoch «einen ausgesprochen nervösen Eindruck» hinterlassen, so die NZZ, die Klammer beim Verlassen des Zielgeländes beobachtet hat.
Der Druck auf Klammer ist enorm. Ganz Österreich erwartet die Goldmedaille – und will Revanche für 1972, als Russi auch deshalb siegte, weil der Österreicher Karl Schranz von den Spielen ausgeschlossen war.
Bernhard Russi legt in diesem Duell vor. Mit der Startnummer 3 stellt er eine Bestzeit auf, an der sich die Gegner die Zähne ausbeissen. Einer nach dem anderen bleibt hinter dem 27-jährigen aus Andermatt. Lässt die Piste, bereits gezeichnet, überhaupt eine noch schnellere Fahrt zu?
Dann steht oben am Patscherkofel Franz Klammer bereit, die Startnummer 15. Seine Skifirma will, dass er mit einem revolutionären Modell antritt, das über ein Loch in der Schaufel verfügte. Doch Klammer lehnt den Ski genauso ab wie einen goldenen Anzug, welchen er als zu eng empfindet – und auch als zu penetrant.
Oben, beim Ochsenschlag-Sprung, hat Klammer einen ziemlichen Bock drin. Danach fährt er besser, aber er liegt bei der letzten Zwischenzeit 19 Hundertstel hinter Russi zurück. Ob das noch reicht?
60'000 Fans sind live dabei, feuern ihren Liebling an, andere halten den Atem an vor Aufregung. Sie wissen um eine von Klammers Stärken, sein Finish. Schon oft gelang ihm im untersten Streckenteil noch eine Wende. Im Wissen um seinen Fehler im oberen Teil riskiert Klammer alles. Beim Bäreneck wählt er eine andere Linie, von der er noch 40 Jahre später überzeugt ist, dass es «der beste Schwung meines Lebens» gewesen ist.
Die letzten Meter, dann die Erlösung: Klammers Zeit stoppt bei 1:45,73 Min. Der Österreicher hat es wieder einmal umgebogen, er gewinnt Gold mit 33 Hundertstel Vorsprung auf Russi. Klammer stösst dazu auch Philippe Roux vom Podest: Der Walliser, der im Abschlusstraining der Schnellste war, verpasst die Zeit des Italieners Herbert Plank und damit die Bronze-Medaille um einen Zehntel.
«Grenzenloser Jubel, ein Wald von Fahnen und Transparenten, der ‹Franzl› hat es geschafft», beschreibt die NZZ den Moment der Entscheidung. Sie lobt den neuen Abfahrts-Olympiasieger besonders für seinen starken Geist. Um den «bedauernswerten 22-Jährigen» habe «ein publizistischer Rummel sondergleichen» geherrscht. «Unvorstellbar die Belastung, der dieser junge, unverbildete Bursche, der Favorit, allein in den letzten Tagen ausgesetzt war.»
Für Russi ist Silber in Innsbruck die letzte Medaille seiner Karriere, die er 1978 als Olympiasieger, Weltmeister und zehnfacher Weltcupsieger beendet. Klammer tritt ebenfalls als Olympiasieger und Weltmeister ab – und als Rekordsieger in der Abfahrt. Als er 1985 aufhört, hat Klammer 25 Weltcup-Rennen in der Königsdisziplin für sich entschieden. Ihm am nächsten kommt der Zürcher Peter Müller mit 19 Siegen. Unerreicht sind auch Klammers fünf kleine Kristallkugeln für den Sieg in der Disziplinenwertung; Didier Cuche und Beat Feuz als zweitbeste bringen es auf vier kleine Kristallkugeln.
Klammer bleibt bis heute einer der populärsten österreichischen Sportler. 1:45,73 Minuten in Innsbruck haben sein Leben verändert: «Das war mir zuvor nicht bewusst, dass eine einzelne Fahrt das Leben so drastisch verändern wird», sagt er vierzig Jahre nach dem Triumph. «Aber ich bin glücklich darüber, dass es sich so in diese positive Richtung entwickelt hat. Den Rummel lässt man gerne über sich ergehen, wenn man erfolgreich ist. Blöd ist, wenn man Zweiter ist, nachher ist es lästig. Dann muss man dauernd erklären, warum man nicht gewonnen hat.»
Zum handfesten Beweis, der Goldmedaille, hat Franz Klammer übrigens keinen innigen Bezug mehr. «Heute» gesteht er 2018, dass er sie verlegt habe: