Am frühen Abend des 6. August 1992 ist die Welt von Mike Marsh schwer in Ordnung. In einer Zeit von 20,01 Sekunden wird der amerikanische Sprinter in Barcelona Olympiasieger über 200 Meter. Es ist im Alter von 25 Jahren der Höhepunkt seiner Karriere.
Einen Tag zuvor ist die Gefühlswelt noch etwas anders. Im Halbfinal dominiert Marsh, ein kräftiger, aber mit 1,78 m eher kleingewachsener Sprinter, seinen Lauf. Und weil die ersten vier sicher den Final erreichen, drosselt er auf den letzten Metern sein Tempo. So, wie das jeder andere an seiner Stelle auch machen würde.
Was Marsh nicht weiss, und nicht im Gefühl hat, ist die Tatsache, dass er durch dieses Austrudeln einen Weltrekord verschenkt. Und zwar nicht irgendeinen: Die Marke von 19,72 Sekunden des Italieners Pietro Mennea, aufgestellt in der Höhenlage von Mexiko City, besteht schon seit 13 Jahren. Während der Weltrekord über 100 Meter regelmässig verbessert wird, beissen sich Carl Lewis und Co. an der Zeit Menneas die Zähne aus.
Es ist praktisch windstill, als sich Marsh und Co. in den Startblock kauern. Auf Bahn 5 läuft der Amerikaner allen davon, auch dem überraschenden 100-Meter-Olympiasieger Linford Christie aus Grossbritannien. Im Ziel blickt Mike Marsh nach seinem Sieg, vielleicht mehr aus Gewohnheit, auf die Anzeigetafel. Er kann fast nicht glauben, was da steht: 19,73.
Eine einzige Hundertstelsekunde fehlt bei praktischer Windstille zur Einstellung des Weltrekords. Den hätte Marsh locker draufgehabt. Bloss geht es an Grossanlässen erst in zweiter Linie um die Zeit, in erster Linie ums Weiterkommen und im Final um die Medaillen. Deshalb sein Joggen ins Ziel.
«Ich habe nichts zu bereuen», sagt Marsh ein Jahr später in der «Los Angeles Times». Er habe einfach die Anweisungen seines Trainers befolgt. «Es war klar: Wenn ich vorne liege, sollte ich langsamer werden, um für den Final ein wenig Kraft zu sparen. Wie hätte ich wissen sollen, dass ich 19,73 Sekunden laufen würde? Ich hatte keine Ahnung, dass ich so schnell unterwegs war.»
Wenigstens geht der Plan auf, Körner zu sparen. Im Final gewinnt Mike Marsh mit zwölf Hundertsteln Vorsprung Gold, Silber geht an Frankie Fredericks aus Namibia, und Bronze ebenfalls in die USA an Michael Bates. An den Weltrekord kommt Marsh nicht heran. Einerseits gibt er an, eine Spur müde zu sein, andererseits spielen die äusseren Bedingungen (Gegenwind und eine hohe Luftfeuchtigkeit) nicht mit.
Olympiasieger Marsh gehört danach auch zur amerikanischen Sprint-Staffel, die Gold gewinnt. Er ist Startläufer des schillernden Quartetts mit Leroy Burrell, Dennis Mitchell und «King» Carl Lewis, das überlegen gewinnt und in 37,40 Sekunden einen neuen Weltrekord aufstellt. Es ist ein zweites «Dream Team», neben jenem der Basketball-Weltstars, die die Olympischen Spiele aufmischen.
Das ist alles wunderbar. Und doch denkt Mike Marsh noch ab und zu daran, wie es gewesen wäre, hätte er doch im Halbfinal über 200 Meter durchgezogen. «Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich zurückdenke und mir sage: ‹Warum bist du langsamer geworden, du Idiot?› Aber ich kann es nicht ändern, so ist das Leben.»
Erst Michael Johnson gelingt es vier Jahre später, Pietro Menneas Fabel-Weltrekord zu verbessern. Er drückt ihn zuerst auf 19,66 Sekunden und schliesslich bei seinem Olympiasieg in Atlanta auf 19,32 Sekunden. Seit 2009 steht der Weltrekord bei 19,19 Sekunden, aufgestellt vom Jamaikaner Usain Bolt an den Weltmeisterschaften in Berlin.
Dass sein Name nicht in der Liste der Weltrekord-Inhaber auftaucht, nimmt Mike Marsh am Abend seines Olympiasiegs gelassen: «Weltrekorde kommen und gehen, aber ich habe die Goldmedaille im Sack.»