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Nur bei einem Blitzschlag wird in so kurzer Zeit so viel Energie entladen wie während den knapp 10 Sekunden des Sprints über 100 Meter. Die Königsdisziplin. Die intensivsten zehn Sekunden der Olympischen Sommerspiele. Ja, vielleicht der ganzen Olympiade – der vier Jahre umfassenden Zeitspanne zwischen den Spielen. Ich verzichte auf vieles im Leben. Aber niemals auf das olympische Finale über 100 Meter.
Es gibt keinen einen anderen Wettkampf mit dieser intensiven Faszination. Bereits das Aufwärmen der schnellsten Menschen der Welt ist ein Ritual. Faszinierend. Unheimlich. Diese Männer vibrieren vor Energie. Stehen unter Strom. Jeder versucht auf seine Weise, die Anspannung zu verbergen, die Konzentration zu behalten und dem Gegner zu imponieren.
Sie strahlen nicht nur Kraft, Energie und Selbstvertrauen aus. Sie wirken auf unheimliche, faszinierende Art aggressiv, beinahe böse. Psychokrieger. Sie mahnen an Raubtiere. Sie sind die Löwen in der Manege der Leichtathletik. Und dann, wenn sie sich zu den Startblöcken begeben, ist es, als stehe die Zeit still. Die Welt hält den Atem an. Nach Jubel und Trubel kehrt im Stadion für ein paar Sekunden Stille ein. Als ob jemand den Stecker rausgezogen hätte. So wie die Natur schweigt, wenn die Löwen sich zur Jagd begeben.
Mit dem Startschuss entladen nicht nur die Sprinter ihre Energie. Auch die Zuschauer. Jubel brandet auf und knapp zehn Sekunden später ist alles vorbei. Als wäre alles nur ein Spuk gewesen. Aber es ist Sport. Das Finale im Zirkus Olympia. Dagegen sind die übrigen Leichtathletik-Disziplinen nur ein Vorprogramm. Am 8. Tag erschuf Gott die Sprinter. Nein, jetzt müssen wir sagen: Am 8. Tag erschuf Gott Usain Bolt. Die Krone der sportlichen Schöpfung.
Der Jamaikaner setzte sich in Rio in 9,81 Sekunden gegen den Amerikaner Justin Gatlin (9,89 Sekunden) durch. Er peilt in Brasilien den dritten Gold-Hattrick über 100 Meter, 200 Meter und 4x100 Meter nach 2008 und 2012 an. Und er hat schon mal verkündet: «Ich werde in Rio kein einziges Gold verlieren.» Mit neun Goldmedaillen würde er mit dem finnischen Langstreckenläufer Paavo Nurmi (1920 bis 1928) und dem amerikanischen Sprinter und Weitspringer Carl Lewis (1984 bis 1996) gleichziehen.
Usain Bolt hatte ein schwieriges Jahr. Noch im Juli musste er wegen einer Oberschenkelverletzung pausieren. Aber er hatte auch ein schwieriges Jahr vor London 2012. Und siegte doch. Er ist selbstischer und mental unzerstörbar wie bis heute nur einer in der Sportweltgeschichte: Muhamad Ali.
Usain Bolts Steigerungslauf in Rio zum dritten Olympiagold über 100 Meter, mit «langsamem» Start und immer höherer Kadenz (wie 2012 in London) lässt sich am einfachsten in einem Satz beschreiben. Lesen sie folgenden Satz. Es dauert ungefähr so lange wie sein goldener Sprint.
«Boooooooooolt, Booooooooolt Boooooooolt, Booooooolt, Boooooolt, Booooolt, Boooolt, Booolt, Boolt und Bolt.»
Usain Bolt hat uns die zehn intensivsten Sekunden dieser Spiele beschert und der charismatische Riese (195 cm/94 kg) stürmte wie ein Naturereignis zum dritten Olympiagold in Serie. Ein Sturmlauf wie eine Mischung aus Laufen, Fliegen und Voodoo-Zauber. Der Jamaikaner ist nun der beste, der charismatischste Sprinter aller Zeiten.
Nie zuvor ist ein menschliches Wesen so locker und ungestüm und unwiderstehlich gelaufen wie Usain Bolt. Diese Leichtigkeit des Sprintens hat es so noch nicht gegeben und ist eines der grossen Rätsel des Weltsports.
Doping bei Usain Bolt? Vielleicht. Im Sport des 21. Jahrhunderts ist es Mode geworden, nach jeder grandiosen Leistung diese Frage zu stellen. Aber wer seinen Sturmlauf vor acht Jahren in Peking, vor vier Jahren in London und jetzt in Rio gesehen hat, denkt nicht in erster Linie an Superbenzin und illegale Energiezufuhr. Sondern an Eleganz, an Technik und an mentale Stärke.
Usain Bolt hat selber 2012 und 2016 die himmelhohen Erwartungen befeuert und dem maximal möglichen Erwartungsdruck standgehalten. Das ist seine ganz besondere Stärke und hat mit illegaler Chemie nichts zu tun. Und kein Schurke, wer jetzt die Frage stellt: Ist Usain Bolt jetzt zu gross, um gestürzt zu werden? Zu berühmt, zu wichtig für das globale Sportgeschäft um des Dopings überführt zu werden? Ja, wahrscheinlich ist es so. Er ist auch allen Doping-Jägern davongelaufen.
Es gibt in Rio bei diesem Rennen über 100 Meter eine noch verrücktere Geschichte. Die der «Testosteron-Rakete» Justin Gatlin (34). Im Schatten der Lichtgestalt Usain Bolt feiert der «Doping-Belzebub» seine Silber-Medaille. Ein Wunder und eine Story über Verrat und Läuterung.
Eigentlich müsste der Amerikaner wegen verschiedenen Dopingvergehen lebenslänglich gesperrt sein. Doch der Olympiasieger von 2004 in Athen läuft heute schneller als zu den Zeiten, als er nachweislich «geladen» hatte. Und er ist in der Nacht auf heute als erster in der Geschichte in der schnelllebigen Welt der 100-Meter-Sprinter 12 Jahre nach seiner ersten Medaille (Gold in Athen 2004) noch einmal aufs Podest gestiegen. Das hat noch keiner geschafft. Nicht einmal Usain Bolt.
Seit 2001 ist Justin Gatlin mehrfach des Dopings überführt worden. Am 29. Juli 2006 verkündete er selbst eine positive A-Probe auf Testosteron. Weil der New Yorker bereits 2001 bei den US- Junioren-Meisterschaften 2001 mit Amphetamin erwischt und für zwei Jahre gesperrt worden war, hätte er eigentlich als Wiederholungstäter lebenslänglich ausgeschlossen werden müssen. Er einigte sich jedoch mit der US-Dopingbehörde (United States Anti-Doping Agency) darauf, als Kronzeuge gegen seinen Trainer Trevor Graham auszusagen und wurde so zum Verräter.
Statt lebenslänglich kassierte er deshalb am 22. August 2006 «nur» acht Jahre bis zum 24. Juli 2014. Schliesslich erwirkte Gatlin eine Halbierung dieser achtjährigen Wettkampfsperre auf vier Jahre bis Juli 2010. Und damit war bereits der Weg nach London juristisch frei.
2004 wurde der «Doping-Belzebub» in Athen mit einer Zeit von 9,85 Sekunden Olympiasieger. In der Nacht auf heute schaffte er Silber mit 9,89 Sekunden. Er läuft also fast so schnell wie vor zwölf Jahren, als er mit ziemlicher Sicherheit gedopt war. Ja, er war diese Saison im biblischen Sprintalter von 34 Jahren hinter Usain Bolt ganz klar die Nummer 2. Nie zuvor ist ein so alter Mensch so schnell gelaufen.
Sein wundersame Comeback provoziert die Frage: Wenn er ohne Superbenzin und mit mehr 30 Jahren fast so schnell läuft wie in seiner dunklen Doping-Vergangenheit – hätte er dann, wenn er nie «geladen» hätte, am Ende gar einer wie Usain Bolt werden können?
Nein, hätte er nicht. Dazu fehlen ihm die prickelnde Exotik, die läuferische Eleganz und die schauspielerischen Talente des Jamaikaners.