Papa Adalbert hält es nicht mehr aus. Im holländischen Valkenburg ist sein Sohn Oscar drauf und dran, Weltmeister zu werden. «Ich war so nervös, ich flüchtete auf die Toilette», erzählte Adalbert dem «Blick». «Als in der Stube ein fürchterliches Geschrei losging, glaubte ich, Ösi wäre eingeholt worden. Dabei war er schon im Ziel.» Als erst dritter Schweizer nach Hans Knecht 1946 und dem legendären Ferdy Kübler 1951 holt sich Oscar Camenzind das Regenbogentrikot des Weltmeisters.
Vor dem 258 Kilometer langen Rennen deutet selbst für seinen Zimmerkollegen Roland Meier nichts auf diesen Triumph hin. «Er war so, wie ich ihn schon vor den Amateurzeiten her kenne. Es gab nichts, das darauf hingewiesen hätte, dass er besonders stark oder besonders motiviert gewesen wäre», sagte Meier in der Fachzeitung «Sport».
Doch Camenzind selber weiss, dass er in einer guten Verfassung ist. «Seit der Spanien-Rundfahrt habe ich nur noch im Sauwetter trainiert. Jeden Tag bin ich tropfnass nach Hause gekommen», erzählte er dem «Blick» im Vorfeld des WM-Rennens. «Ohne die Motivation WM hätte ich diese Tortur nicht auf mich genommen. Aber jetzt bin ich bereit.»
Die zwölfköpfige Schweizer Equipe geht ohne Leader, aber mit vielen Trümpfen ins Rennen: Camenzind, Olympiasieger Pascal Richard, Rolf Järmann, Markus und Beat Zberg können an einem guten Tag allesamt um die Medaillen fahren. Dazu kommen starke Helfer wie Mauro Gianetti, Niki Aebersold, Meier, Fabian Jeker oder Felice Puttini.
Die Vorbereitung im Sauwetter sollte sich für «Ösi» auszahlen. Regen und Wind prägen das Rennen, in dem der zwölf Prozent steile Cauberg als Scharfrichter gilt. Das Schweizer Team fährt taktisch klug und es befinden sich in der Entscheidung gleich zwei Fahrer in einer sechsköpfigen, hochkarätigen Spitzengruppe: Oscar Camenzind und Niki Aebersold. Mit ihnen kämpfen der italienische Topfavorit Michele Bartoli, ein gewisser Lance Armstrong aus den USA, der Holländer Michael Boogerd und der Belgier Peter van Petegem um die Medaillen.
Die Überzahl kommt den Schweizern natürlich zugute, sie lässt mehr taktische Varianten zu. Camenzind weiss, dass er in einem Sprint wohl chancenlos ist, also muss er versuchen, als Solist ins Ziel zu kommen. «Ich hatte mit Aebersold abgesprochen, als erster anzugreifen», verriet Camenzind nach dem Triumph. Er versucht es 14 Kilometer vor dem Zielstrich, am Bemelerberg – relativ früh.
«Sicher war ein Risiko dabei», gibt der neue Weltmeister zu, «aber wenn ich zugewartet hätte, wären die anderen viel besser vorbereitet gewesen. Ich habe attackiert und wollte sehen, wie die Gegner reagieren. Ich vermute, sie waren sich einen Moment lang uneins. Da bin ich halt volles Rohr gefahren.»
Camenzind ist weg – und die anderen sehen ihn erst im Ziel wieder. Für Bartoli bleibt nach vier Defekten und einem Sturz nur die Bronzemedaille, er verliert den Sprint um Silber gegen van Petegem. «Camenzind hat den Sieg verdient», zeigt sich der Italiener als fairer Verlierer, «ich hatte schlicht nicht mehr die Kraft, um ihn zu stellen und war moralisch angeschlagen.»
Mit 27 Jahren ist der Bauernbub und ehemalige Briefträger aus Gersau SZ am Höhepunkt seiner Karriere angelangt. Und fast ein halbes Jahrhundert nach Ferdy Kübler kann die Schweiz wieder einen Weltmeister feiern. «Ich habe vor Freude geweint», erzählte Kübler dem «Blick», er habe das ganze Rennen von A bis Z zuhause am Fernseher mitverfolgt. «Was Oscar mit den Gegnern machte, das war schlicht sensationell.»
In den grossen Gold-Jubel mischen sich aber auch Grautöne. Der Radsport erlebt just 1998 seine allergrösste Krise. Wenige Monate vor der WM erschüttert die «Festina-Affäre» die Tour de France, Doping und das neue Wundermittel EPO sind allgegenwärtig im Feld.
Die «Neue Zürcher Zeitung» schrieb in ihrem Kommentar von einer neuen Generation Schweizer Fahrer, die sich gezeigt habe. Sie gab allerdings auch zu bedenken, dass «der Zeitpunkt für solche Offenbarungen auch schon günstiger war. Im Jahr der grössten Dopingaffäre des Spitzensports verlieren sie, leider, etwas an Glanz.» Auch für den «Bund» bleiben Zweifel: «Es wäre verlogen, ausgerechnet jetzt, nach einer wahren Sternstunde des Schweizer Sports, den Mantel des Schweigens auszubreiten.»
Die Zurückhaltung ist angebracht. Oscar Camenzind wird, wie so viele andere Rennfahrer seiner Generation, des Dopingmissbrauchs überführt werden. Zunächst, 1999, hat er noch Glück. Die sogenannte «Güselsack-Affäre» übersteht er unbeschadet. Während der Tour de Suisse entsorgt ein Betreuer seines Teams Lampre einen Abfallsack mit gebrauchten Spritzen in einem Container. Ein Journalist stellt diese sicher und lässt sie von einem Labor untersuchen. Zwar werden Spuren von Dopingmitteln gefunden, doch letztlich versandet die Untersuchung.
Fünf Jahre später hat Camenzind das Glück aufgebraucht. Im Training für die Olympischen Spiele 2004 in Athen bleibt der mittlerweile knapp 33-Jährige in einer Trainingskontrolle hängen. 50 Kilometer lang verfolgt ein Dopingkontrolleur von Swiss Olympic den Profi mit dem Auto, auf dem Klausenpass steigt Camenzind vom Velo und gibt seinen Urin ab. Da weiss er bereits, dass seine Karriere nun vorbei ist.
Denn im Herbst seiner Karriere läuft es «Ösi» nicht mehr und nach einer Erkrankung an Pfeifferschem Drüsenfieber setzt er alles auf eine Karte. «Ich nahm erstmals in meiner Karriere EPO, das sollte mir helfen. Denn ich war dem Druck nicht mehr gewachsen. Ich ging das Risiko ein – und jetzt bin ich erleichtert, dass alles vorbei ist.» Er spritzte sich das EPO selber. «In den Oberarm, unter die Haut. Das ist nicht so eine grosse Sache.»
An einer Medienkonferenz im Luzerner Bahnhofbuffet erklärt Camenzind seinen sofortigen Rücktritt. Auf die Öffnung der B-Probe verzichtet er, gesteht den Missbrauch sofort. Dass er sich Doping gespritzt habe, sei «die dümmste aller Varianten» gewesen.
Der Radsport hat es ihm längst verziehen: An der Tour de Suisse kutschiert Oscar Camenzind jeweils VIP-Gäste von Sponsoren durchs Land.