Im Moment ist Robin Gemperle wieder unterwegs. Allein und nur mit dem Velo. Die Strecke: 1954 Kilometer quer durch Kirgisistan. Insgesamt 27'938 Höhenmeter muss er bewältigen und mehrere Pässe auf fast 4000 Metern überqueren. Nur selten sind die Wege asphaltiert. Meistens sind es Schotterstrassen. Und das grösstenteils auf über 2500 Metern über Meer.
Das Silk Road Mountain Race ist eine Ikone im Bereich des Ultracyclings, in jener Form des Radsports, in der die Teilnehmenden versuchen, enorme Strecken in möglichst kurzer Zeit zu absolvieren. Doch nicht nur die Distanz, sondern auch die extremen Wetterbedingungen entlang der Seidenstrasse machen das Rennen in Kirgisistan zur Qual.
Warum tut man sich das an? Gemperle sagt: «Ich bin schon früher gerne zusammen mit Kollegen sehr lange Strecken in sehr kurzer Zeit gefahren.» Zum Beispiel in 24 Stunden von Aarau nach Paris oder in 48 nach Barcelona. «Aber während meine Kollegen litten, machte es mir einfach Spass. Da meinten sie, ich müsste auch mal leiden.» Also meldete sich Gemperle vor drei Jahren für sein erstes Ultracycling-Rennen an.
Am «Transcontinental Race», einem Rennen quer durch Europa, schaffte er es auf Anhieb in die Top 10, obwohl er quasi ohne Plan unterwegs war und mehrmals mit dem Gedanken spielte, aufzugeben. Er tat es nicht und war angefixt. Beim zweiten Anlauf wurde Gemperle Zweiter, knapp hinter dem langjährigen Szene-Dominator Christoph Strasser. Vor einem Jahr siegte Gemperle schliesslich und deklassierte den Österreicher regelrecht.
Der 29-jährige Aargauer revolutioniert derzeit gerade die Welt des unsupported Ultracycling. Unsupported bedeutet, dass die Teilnehmenden keine fremde Hilfe beanspruchen dürfen. Es gibt keine Begleitfahrzeuge, keine Betreuer, keinen Windschatten. Alles, was die Sportlerinnen und Sportler brauchen, müssen sie selbst mitführen oder unterwegs kaufen.
In diesem Jahr verzichtete Gemperle auf das Transcontinental und bestritt vor zwei Monaten stattdessen in Nordamerika die Tour Divide, noch so ein Monument in der Welt des Ultracyclings. Der Aargauer pulverisierte sogleich den Streckenrekord, auch wenn seine Zeit wegen einer aufgrund von Waldbränden minimal angepassten Route nicht offiziell anerkannt wurde. An Gemperles Leistung ändert das nichts. Nur 11 Tage, 19 Stunden und 14 Minuten brauchte er für 4400 Kilometer und 33'000 Höhenmeter.
Warum aber ist Robin Gemperle so viel schneller als alle vor ihm? Das Zauberwort heisst Erholung. Gemperle sagt: «Lange wurde behauptet, das Erfolgsrezept sei, möglichst wenig zu schlafen. Es gibt Athleten, die kommen über zehn Tage mit 90 Minuten pro Tag aus. Sie erinnern dann allerdings an fahrende Zombies. Ich hingegen schlafe unglaublich viel.»
«Unglaublich viel» bedeutet: Gemperle gönnt sich vier Stunden pro Nacht. Gegen Ende des Rennens vielleicht noch drei, in den letzten ein, zwei Tagen zwei. Er sagt: «Weil ich erholter bin, fahre ich eine viel höhere Pace. So hole ich problemlos wieder auf, was ich durch den Schlaf ‹verliere›.» Gemperle stellt den Leistungsaspekt ins Zentrum. Es geht um Wattzahlen und Pulskontrolle. So, wie es die Fahrer an der Tour de France machen.
Diese Professionalisierung des Ultracyclings kommt nicht überall gut an. Bei einigen gilt Gemperle als Nestbeschmutzer. Der weitaus grössere Teil sieht ihn allerdings als Inspiration. Gemperle war einst ein talentierter Nachwuchsmountainbiker, hörte dann allerdings in einem Alter auf, in dem das Leben durchaus auch andere Verlockungen bietet, als sich als Sportler zu quälen. «Vielleicht wäre aus mir ein Top-10-Fahrer im Weltcup geworden», sagt er, «aber kein Weltmeister. Darum bereue ich es nicht.»
Gemperle begann ein Studium in Architektur, spürte allerdings, dass ihm das Velofahren fehlt. Also begann er, Fixed-Gear-Rennen zu fahren. Zum Einsatz kommen Velos ohne Gang. Gemperle war durchaus ambitioniert, fuhr auch im Ausland, ehe er das Ultracycling für sich entdeckte. «Ab da nahm es neue Dimensionen an. Mittlerweile bin ich Profisportler», sagt er.
Sein Architekturstudium hat Gemperle abgeschlossen. Neben dem Sport arbeitet er aktuell mit einem 20-Prozent-Pensum als Fitnesscoach bei seinem Trainer. Zwingend darauf angewiesen wäre er nicht. «Ich habe das Glück, dass ich einen Sport mache, wo man gute Geschichten erzählen kann und ich für vieles attraktiv bin. Aktuell verdiene ich deutlich besser, als wenn ich als Architekt mit Einsteigerlohn arbeiten würde», sagt er.
Noch sieht er die Entwicklungsmöglichkeiten im Ultracycling längst nicht ausgeschöpft. «Die Ernährung könnte das nächste grosse Thema werden.» Schon jetzt plant er seine Routen so, dass seine Stopps auf Orte fallen, die etwas bieten. Meist sind das aber trotzdem nur Tankstellenshops oder Fastfood-Lokale, weil praktische Alternativen fehlen. Gemperle sagt: «Ich esse sehr viel Mist an diesen Rennen. Man nimmt, was man bekommt.»
Die Frage lautet: Ist die Leistungssteigerung durch eine bessere Ernährung genügend gross, um den Zeitverlust zu kompensieren, der entsteht, wenn er anders einkauft und sogar selbst kocht? Gemperle sagt: «In diesem Bereich ist vieles noch nicht abschliessend beantwortet.»
Am Silk Road Mountain Race liegt Gemperle derzeit erneut deutlich in Führung (hier geht's zum Dotwatching). Als wir ihn wenige Wochen vor dem Start des Rennens zum Interview treffen, sagt er: «Ich habe eindeutig Lust, der Beste zu sein. Ich möchte in dieser Szene alle wichtigen Rennen gewinnen – egal auf welchem Untergrund und über welche Distanz.» Er ist auf bestem Weg.