Es muss der amerikanische Optimismus sein. «Zwei Sekunden schneller, das liegt drin», denkt sich Paul Epstein, als er Daniele Sette zum ersten Mal in einem Rennen sieht. Es war irgendwann im Winter vor drei Jahren, Epstein war mal wieder dort unterwegs, wo sich der 37-jährige Amerikaner aus Vermont sein ganzes Skileben lang schon herumtreibt: Im Europacup oder an FIS-Rennen, wo die Athleten die Startnummer vor dem Rennen noch persönlich abholen und ihr Material nicht selten selbst zum Berg tragen.
Dort, im Vorzelt des grossen Skizirkus, fernab des Rampenlichts, hat auch der 27-jährige Sette mehr Zeit verbracht, als er jetzt, im Kreis der Grossen, noch vor sich hat. Am Wochenende fuhr der Techniker aus St.Moritz im Riesenslalom von Adelboden als 19. zum ersten Mal überhaupt in die Punkte.
Es ist der vorübergehende Höhepunkt auf einem langen Weg, den der Engadiner gegangen ist, und einer der Schlüsselfiguren darauf war ebendieser Paul Epstein: als Trainer, Mentor, Brückenbauer. «Was uns sofort verband, war die Selbstständigkeit», erinnert sich Sette. «Beide haben wir unsere Zeit am Berg geplant, wie wir es wollen.» Beide mussten sie planen, weil es für sie niemand anderes tut.
Epstein fuhr zu seiner Aktivzeit vor allem in seiner Heimat, im Nor-Am-Cup und an FIS-Rennen, oft in Sugarbush am Mount Ellen, wo er aufgewachsen ist. Zum Sprung ins US-Nationalteam hat es ihm nie gereicht. «Ich kenne das Gefühl, als Athlet auf sich alleine gestellt zu sein.» Die finanziellen Engpässe, die Nebenjobs im Sommer, die selber organisierten Trips zum Sommertraining nach Neuseeland, sich einen Hang suchen, einen Lauf stecken, morgens an den Schalter für den Skipass, Hotel, Mietwagen, Flug – das Ein-Mann-Unternehmen. Daniele Sette hat das jahrelang gemacht. Sette sagt: «Die Skiwelt ist zwar klein. Aber man kann sich da auch einsam fühlen.»
In den grossen Skinationen kann es vorkommen, dass ein Talent plötzlich strandet. Sportgymnasium, Nationales Leistungszentrum, Junioren-Nationalteam – und dann: nichts mehr. So ging es Sette, so geht es vielen. «Das ist vor allem schade, weil sie ihr bestes Alter als Rennfahrer noch vor sich haben», sagt Epstein. «Irgendwann waren wir zu alt», sagt Sette. Zu alt, mit knapp 20 Jahren.
Als Epstein 2013 das Global Racing Team ins Leben rief, ging es ihm um genau solche Fahrer. Die Aussortierten aus den grossen Skiländern. Und die Talentierten aus den kleinen Nationen, die nie auf eine gut ausgebaute Athletenförderung zählen konnten. Heute fahren bei Global Racing Profis aus Australien, Belgien, Holland mit. Aber eben auch Österreicher, Italiener. Mit dem Bündner Nicholas Iliano (27) ist aktuell wieder ein Schweizer dabei. Und auch Ian Gut (24), der Bruder von Lara Gut-Behrami, der für Liechtenstein startet, hat sich letztes Jahr dem Global Racing Team angeschlossen.
Epstein hält die Verträge kurz, ein Jahr ist es in der Regel. «Wenn die Jungs nach einer Saison bei uns wieder bei den Nationalteams unterkommen, habe ich meinen Job ja gut gemacht.» Bei Daniele Sette ging der Plan auf: Nach langer, schwieriger Zeit auf eigenen Beinen kam er 2018 bei Global Racing unter, im Sommer 2019 erhielt er einen Platz im B-Kader von Swiss Ski, letztes Wochenende in Adelboden startete er zum vierten Mal überhaupt im Weltcup.
Und welche Welt gefällt ihm besser? Die etwas wilde, selbstbestimmte, alte Zeit? Oder die neue, strukturierte Realität der Kaderfahrer? «Ich will an die Spitze, immer besser werden», sagt Sette. Dafür ist die neue Welt, ist der Platz im Kader ideal. Aus der selbstständigen Phase hat er dennoch einiges mitgenommen. Früher war er als Alleinorganisator zeitlich immer am Anschlag, es gab ständig etwas zu tun. Jetzt wird ihm viel abgenommen, «im Prinzip wird für dich überlegt». Plötzlich bestehe die Gefahr der Ablenkung, obwohl all die Annehmlichkeiten des Kaderprofis ja dazu dienen, die Konzentration auf die Renntätigkeit zu fördern. «Aber ich bin gewohnt, mich beschäftigt zu halten», sagt Sette. Das habe sich nicht verändert.
Epstein erzieht seine Athleten bei Global Racing ziemlich selbstständig. Sein Coachingansatz ist kein autoritärer, «weil ich mich noch immer als Athlet fühle und zu wissen glaube, was in ihnen vorgeht», sagt er. Er sieht sein Team als kleine Familie, studiert Charaktere, bevor er einen Fahrer aufnimmt. Jedes Jahr lehnt er auch Kandidaten ab, letzte Saison waren es acht. Im April, im Mai, wenn die Selbstständigen ihre Saison planen, kommen viele auf ihn zu.
Epstein hat sich einen Namen gemacht in der Skiwelt. Man kennt ihn, man respektiert ihn. «Ich habe nie Ablehnung erfahren», sagt er. «Aber man hat mir jetzt auch nicht gleich die Hand gereicht.» Er hat drei Trainer angestellt, zusammen mit ihm sind das je zwei Slalom- und Riesenslalom-Coaches. Die meisten Athleten stossen mit eigenen Sponsoren zum Team. Mit Global Racing fahren sie an die Rennen, die Europacup- (und seltener Weltcup-)Punkte holen sie für die eigene Nation.
Die Zeit im Global Racing Team bezeichnet Daniele Sette heute als entscheidende Teilstrecke auf seinem bemerkenswerten Weg. «In diesem Jahr hat einfach viel zusammengepasst.» Durch einen Markenwechsel (Head auf Fischer) erhielt er neuen Schub, er blieb – anders als nach seiner Weltcup-Premiere 2014 in Adelboden – von Verletzungen verschont. In der Zeit bei Global Racing kam für ihn also vieles zusammen. «Vielleicht musste es für mich dieser Weg sein», sinniert Sette und kommt zum Schluss: «Damals bei Global hat sich jeder verbessert.»
Für Epstein ist das die schönste Anerkennung für seine Arbeit. Bereits gibt es ähnliche Teams, die World Race Academy ist so eines. Das Modell fülle eine Lücke. «Aber es ersetzt nicht das Scouting, die Grundausbildung der Talente», ist sich Epstein bewusst. Der amerikanische Optimist hat auch Realitätssinn.