Sie selbst kann es immer noch kaum fassen. Da liegt Anna Seidel im letzten Qualifikationsrennen für Sotschi abgeschlagen auf dem letzten Platz, bis die drei Führenden plötzlich in eine Kollision verwickelt werden. Ungehindert können Seidel und die Amerikanerin Jessica Smith an den Gestürzten vorbeiziehen.
Bis zu diesem lebensverändernden Rennen war Seidels beste Platzierung im Weltcup Platz 27. Doch das in Russland gelegene Kolomna meinte es gut mit der Deutschen. Im Halbfinale des Shorttracks-Weltcups über 1500 Meter lag Seidel klar hinter den Konkurrentinnen – zum Glück. Denn zwei Runden vor Schluss stürzten die Führenden spektakulär und lösten Seidel somit das Ticket nach Sotschi.
Für die Schülerin, die ein Sportgymnasium besucht, kam das natürlich überraschend: «Ich kann es eigentlich immer noch gar nicht richtig fassen, bin immer noch total geflasht und alles», sagt Seidel in einem Beitrag der «Sportschau». Für die Gestürzten bleibt der einzige Trost, dass auch sie sich für Olympia qualifiziert haben.
So kann Anna Seidel mit ihren 15 Jahren mit Sportgrössen aus aller Welt nach Russland reisen, während ihre Kolleginnen in die Schule müssen. Bleibt zu hoffen, dass sie wenigstens während Seidels Rennen den Unterricht einstellen.
Seidels Geschichte erinnert frappant an die Olympischen Winterspiele 2002 in Salt Lake City. Im Shorttrack-Final kommt Steven Bradbury zur unerwartetsten Goldmedaille der Geschichte. Bis zur letzten Kurve liegt der Australier auf dem fünften Rang, als alle vor ihm liegenden Konkurrenten sich gegenseitig zu Boden reissen und Brandbury so den Weg zur Goldmedaille frei machen. Zu diesem Zeitpunkt war Anna Seidel drei Jahre alt.
Ob es für die Deutsche in Sotschi ebenfalls so weit nach vorne reichen wird, ist zu bezweifeln. Seidel, die eine Zahnspange trägt und noch vier Jahre im Junioren-Bereich antreten könnte, wird viel Erfahrung sammeln und mit ihrer Unbeschwertheit versuchen, «nicht Letzte zu werden.»