Es sind schwere Zeiten für die USA: Die Wirtschaft lahmt, aussenpolitisch sind sie in der Defensive, das Selbstvertrauen ist angeschlagen. Wir schreiben das Jahr 1980. Das Land leidet unter einer Energiekrise und einer wirtschaftlichen Stagflation – Stagnation plus hohe Inflation. Im Vorjahr hatten iranischen Revolutionäre die US-Botschaft in Teheran gestürmt und 52 Amerikaner als Geiseln genommen. Und Ende 1979 waren sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschiert.
Die Stimmung an den Olympischen Winterspielen in Lake Placid im US-Bundesstaat New York ist folglich angespannt – einige Monate später werden die Amerikaner wegen Afghanistan die Sommerspiele in Moskau boykottieren. In der Finalrunde des Eishockey-Turniers kommt es zum Showdown zwischen den USA und der Sowjetunion.
Es ist nur auf dem Papier eine Begegnung zweier Grossmächte: Die Amerikaner treten mit einer Truppe von namenlosen College-Spielern (NHL-Profis sind damals nicht zugelassen) gegen die furchterregende, als unbesiegbar geltende «rote Armee» mit ihren «Staatsamateuren» an.
Die sowjetische Sbornaja ist gespickt mit klangvollen Namen: Der legendäre «Wundersturm» mit Boris Michailow, Waleri Charlamow und Wladimir Petrow, ergänzt mit den aufstrebenden Supertalenten Sergej Macharow und Wladimir Krutow, und hinten mit Wladislaw Tretjak der wohl beste Goalie der Hockey-Geschichte.
Gegen diese überragenden Techniker können sich die Amerikaner nur mit physischen Qualitäten behaupten. Der unerbittliche Coach Herb Brooks hat seine «Studententruppe» während eineinhalb Jahren gedrillt. Trotzdem setzt es in einem Vorbereitungsspiel gegen die Sowjets eine 3:10-Packung ab.
Doch an jenem 22. Februar 1980 sind die Amerikaner bereit, angefeuert von 8500 begeisterten Zuschauern in der Eishalle von Lake Placid. Das erste Drittel verläuft ausgeglichen. Praktisch mit der Sirene erzielt Mark Johnson den 2:2-Ausgleich. Er profitiert dabei von einem Abpraller des ungewohnt unsicheren Tretjak.
Dann die Überraschung: Im mittleren Abschnitt ersetzt Sowjet-Coach Wiktor Tichonow seinen Goalie durch die Nummer 2 Wladimir Myschkin. Rückblickend gilt diese für viele unbegreifliche Massnahme als Schlüsselmoment des Spiels. Als Verteidiger-Legende Wjatscheslaw Fetisow Jahre später zusammen mit Mark Johnson in der NHL spielte, nannte er einen simplen Grund für den Wechsel: «Coach crazy.»
Der berüchtigte Schleifer Tichonow rechtfertigte sich, er habe Tretjak auf Druck von sowjetischen Funktionären aus dem Spiel nehmen müssen. Er gab aber auch zu, es sei ein schwerer Fehler gewesen. Tretjak selbst verbarg in seiner Autobiographie seinen Ärger nicht. Myschkin sei ein ausgezeichneter Goalie, «aber er war nicht bereit für den Kampf, er hatte sich nicht auf die Amerikaner eingestellt», schrieb er.
Im mittleren Abschnitt allerdings hält der Ersatzmann seinen Kasten rein, während die «Sbornaja» zu einem Sturmlauf auf das Goal der Amerikaner ansetzt. Doch nun schlägt die Stunde von US-Schlussmann Jim Craig. Er pariert einen Schuss nach dem anderen und wird zum Helden des Spiels. Nur einen Puck lässt er passieren. Im Schlussdrittel kippt die Partie. Wiktor Tichonow begeht seinen nächsten Fehler: Er forciert seine Routiniers, denen der Schnauf ausgeht, während die Amerikaner ihre Fitness ausspielen. Dank zwei Abwehrfehlern gehen sie 4:3 in Führung.
Die letzten zehn Minuten werden zu einer Abwehrschlacht: Die US-Boys riegeln ihr Tor ab, während die Sowjets mit der ungewohnten Situation überfordert wirken. «Sie waren in Panik, sie droschen den Puck nur noch nach vorne in der Hoffnung, dass dort jemand sein würde», erinnerte sich Goalie Jim Craig später. In den Schlusssekunden äussert Fernsehkommentator Al Michaels einen der berühmtesten Sätze der US-Sportgeschichte: «Noch fünf Sekunden. Glauben Sie an Wunder? Ja!»
Der Begriff «Miracle on Ice» ist geboren – das Wunder auf dem Eis. 1999 wird der sensationelle Erfolg in mehreren Umfragen zur grössten US-Sportleistung des 20. Jahrhunderts gewählt. Zwei Tage später schlagen die Amerikaner auch Finnland und gewinnen nach dem damaligen Modus die Goldmedaille. Die Sowjets nehmen die Niederlage sportlich, überhaupt war es gemessen an der aufgeheizten Stimmung ein ausgesprochen fairer Match mit nur je dreimal zwei Strafminuten.
Einige der US-Collegespieler machen später eine grosse Karriere in der NHL, andere verschwinden in der Versenkung. Captain Mike Eruzione, Schütze des 4:3-Siegestors, tritt zurück – ihm fehlt nach dem historischen Triumph die Motivation für weitere sportliche Taten. 22 Jahre später vereint sich das US-Team erneut, um in Salt Lake City das Olympische Feuer zu entzünden.
Trainer Herb Brooks wechselt nach Lake Placid völlig überraschend in die Schweiz zum HC Davos. Doch in der damals noch behäbigen NLA kann sich der raubeinige Ami nicht durchsetzen, er wird noch vor Saisonende gefeuert. Danach versucht er sich mit wenig Erfolg in der NHL. 2002 betreut Brooks erneut das US-Olympiateam, und noch einmal gelingt ihm ein Coup: Silber hinter Nachbar Kanada. Im folgenden Jahr kommt Herb Brooks bei einem Autounfall ums Leben.