Die Distanz zum Tor ist weit, trotzdem ist der Ball in der 18. Minute des WM-Halbfinals zwischen Holland und Uruguay nicht lange in der Luft, vielleicht zwei Sekunden. Dann schlägt er im Tor von Uru-Keeper Fernando Muslera ein. Fast schon eine Frechheit, von dort abzuziehen.
Natürlich sieht der 1,90-m-Mann beim Schuss aus 37 Metern nicht gut aus, doch falsch gemacht hat er eigentlich nichts. Er ist gut positioniert und übergreift während seiner Flugphase mustergültig.
Aber obwohl «Jabulani», der WM-Ball von 2010, für einmal nicht flattert, hilft alles Strecken und Recken nichts. Es ist ein Traumtor, 1:0 für Holland. «Es war der perfekte Schuss», sagt Hollands Assistenztrainer Frank De Boer nach der Partie.
Geschossen hat den Treffer, der später zum schönsten Tor der WM in Südafrika gewählt wird, kein Toptorjäger. Auch nicht Arjen Robben, oder Wesley Sneijder, sondern Linksverteidiger Giovanni van Bronckhorst. Nur einem wie ihm kann es einfallen, aus dieser Position zu schiessen. Es ist im 105. Länderspiel erst das sechste Tor des 35-jährigen Oranje-Captain.
Es ist wohl sein wichtigstes. Holland, das sich nach zwei verlorenen WM-Finals so sehr nach dem ersten Titel sehnt, übernimmt gegen Uruguay sofort das Spieldiktat, rennt an. Zu Torchancen kommt die «Elftal» aber nicht, die Südamerikaner mauern von Beginn an. Doch dann lassen sie van Bronckhorst auf der linken Seite zu viel Platz. Dieser fasst sich ein Herz und zieht ab – «Ik probeer het maal», scheint er sich zu sagen. Und vielleicht haben die Urus ja auch gedacht, der trifft eh nicht.
Van Bronckhorsts Treffer löst den Knoten bei den Holländern. Nach dem zwischenzeitlichen Ausgleich durch Diego Forlan machen Wesley Sneijder und Arjen Robben in der zweiten Halbzeit alles klar. Der 2:3-Anschlusstreffer in der Nachspielzeit kommt zu spät. «Oranje» darf tatsächlich vom ersten Titel träumen.
Schon vor der WM hatte Captain van Bronckhorst angekündigt, dass er seine Karriere nach 17 Jahren Profi-Fussball beenden werde. «Gio», wie er seit seiner Zeit beim FC Barcelona genannt wird, hat fast alles erreicht, was man in diesem Geschäft erreichen kann: Cupsieger mit Feynoord Rotterdam in Holland, Meister und Cupsieger mit den Glasgow Rangers in Schottland, Meister und Cupsieger mit Arsenal in England, Meister und Champions-League-Sieger mit Barça in Spanien.
Seit 2007 lässt der Vielgereiste, dessen Vorfahren einst von der indonesischen Inselgruppe der Molukken nach Holland auswanderten, seine Karriere bei seinem Stammklub Feyenoord ausklingen. In Rotterdam trifft er auf Trainer Bert van Marwijk.
Als dieser 2008 das Amt als holländischer Nationaltrainer antritt, macht er van Bronckhorst zum Captain. In Südafrika soll endlich auch der grosse Coup mit der «Elftal» gelingen: «Weltmeister zu werden, ist mein letzter grosser Traum», sagt er.
Doch die Holländer verlieren den Final gegen Spanien nach hartem Kampf mit 0:1. Andrés Iniesta trifft in der Verlängerung mitten ins Oranje-Herz und sorgt damit dafür, dass van Bronckhorsts und Hollands grosser Traum nicht in Erfüllung geht. Als Trost wird der Captain nach der WM von Königin Beatrix zum Ritter geschlagen.
Mittlerweile gibt van Bronckhorst sein Wissen als Trainer weiter. Von 2011 bis 2015 ist er unter Ronald Koeman und Fred Rutten bei Feynoord als Assistent tätig, danach übernimmt er selbst den Chefposten. Mit Erfolg: Im Frühling 2017 führt van Bronckhorst seinen Stammverein zum ersten Meistertitel seit 18 Jahren. Danach zog er weiter zu den Glasgow Rangers, wo er den schottischen Pokal gewann, im November 2022 aber entlassen wurde.