Ivan Lendl kommt 1989 als haushoher Favorit ans French Open. Drei seiner bislang sieben Grand-Slam-Titel hat der Tschechoslowake an der Porte d'Auteuil gewonnen, seit dreieinhalb Jahren ist er – mit einem kurzen Unterbruch von 20 Wochen – die Weltnummer 1. «Ivan, der Schreckliche» beherrscht das Männertennis dank seinem starken Aufschlag und der wuchtigen Vorhand beinahe nach Belieben.
Ohne Satzverlust stürmt Lendl dann auch in den Achtelfinal, wo er auf den erst 17-jährigen Amerikaner Michael Chang trifft. Der Sohn taiwanesischer Einwanderer hat auf der Tour schon auf sich aufmerksam gemacht: Beim US Open 1988 kämpft sich der Teenager dank seiner Unbeschwertheit bis in den Achtelfinal, wenig später gewinnt er in San Francisco sein erstes ATP-Turnier.
Beim French Open schlägt die damalige Weltnummer 15 auf dem Weg in den Achtelfinal unter anderem auch den um ein Jahr älteren Pete Sampras, der bis dato aber noch kaum in Erscheinung treten konnte. Doch Ivan Lendl hätte gewarnt sein können.
Im Duell David gegen Goliath lässt der Modellathlet Lendl gegen den schmächtig wirkenden Chang in den ersten beiden Sätzen nichts anbrennen. Der 29-Jährige dominiert die meist über einminütigen Ballwechsel, reagiert auf Breaks des Amerikaners mit dem sofortigen Re-Break und geht nach knapp zwei Stunden mit 2:0-Sätzen in Führung. Die Partie nimmt den erwarteten Lauf. Doch im dritten Durchgang kippt das Momentum plötzlich.
Chang holt sich Satz Nummer 3 dank zwei Breaks zum Schluss mit 6:3 und schleicht sich damit in Lendls Kopf. Der Favorit wirkt immer unsicherer. Er macht plötzlich mehr Fehler, während der noch nicht sehr austrainierte Chang mit Wadenkrämpfen in beiden Beinen zu kämpfen hat. Dennoch schafft der Teenager das Break zum 4:2. Lendl verpasst danach die Chance zum Re-Break und verliert immer mehr die Fassung.
Nachdem ein knapper Ball von Chang gut gegeben wird, bittet Lendl den Stuhl-Schiedsrichter den Abdruck zu kontrollieren. Doch dieser kann den Abdruck nicht mehr finden und gibt den Punkt an den Aussenseiter. Lendl kann es nicht fassen und beschimpft den Schiedsrichter: «Jedes Mal betrügst du mich.» Der Unparteiische bestraft Lendl für sein unflätiges Benehmen mit einem Punktabzug und das Spiel geht an den Amerikaner.
Als Chang beim Stand von 5:3 zum Satzausgleich serviert, beginnt er plötzlich, ständig hohe Mondbälle zu spielen – um die Geschwindigkeit aus dem Spiel zu nehmen und sein Gegenüber weiter aus der Fassung zu bringen. Der Psychotrick funktioniert, Lendl muss auch den vierten Durchgang abgeben.
Der Entscheidungssatz wird zum offenen Schlagabtausch. Obwohl Chang wegen seiner Wadenkrämpfe phasenweise kaum mehr stehen kann und bei manchen Schlägen vor Schmerzen schreit, verblüfft er im anderen Moment plötzlich wieder mit unglaublichen Gewinnschlägen.
Ans Aufgeben denkt Chang nie. «Wenn du das erste Mal aufgibst, ist es das zweite, dritte und vierte Mal viel einfacher, das Gleiche zu tun», sagt er später. Bei jedem Seitenwechsel trinkt er so viel wie möglich und isst ständig Bananen, aus Angst vor Krämpfen setzt er sich auch nicht mehr hin.
Dem Amerikaner gelingt zu Beginn des fünften Satzes überraschend das frühe Break, doch seine Kräfte schwinden zusehends. Seine Aufschläge sind nur noch «Einwürfe» und es scheint nur eine Frage der Zeit, bis Lendl das Re-Break schafft. Doch Chang wehrt sich, bei 4:3 und 15:30 aus seiner Sicht, wieder mit einem Psychotrick, der zur Legende werden sollte. Er schnibbelt einen Aufschlag von unten ins Feld, der komplett überraschte Lendl greift an und wird passiert.
Chang bringt seinen Service mit Ach und Krach durch und kommt im folgenden Aufschlagspiel Lendls bei 15:40 zu zwei Matchbällen. Und was macht der 17-Jährige? Er packt den nächsten Psychotrick aus. Demonstrativ stellt er sich vor Lendls zweitem Aufschlag an die T-Linie. Im Publikum bricht Gelächter aus, Lendl verwirft genervt die Hände, blickt zum Schiedsrichter und serviert dann den Doppelfehler.
Nach 4:37 Stunden fällt Chang nach dem 4:6, 4:6, 6:3, 6:3, 6:3 weinend auf die Knie. Dank seinem unbändigen Kampfgeist schafft er die grosse Sensation und wirft die Weltnummer 1 aus dem Turnier. «Ich spiele ja immer gegen ältere Kontrahenten. Wenn die den kleinen Kerl auf der anderen Seite des Netzes sehen, werden sie nervös», sagt der spätere Wanderprediger nach der Partie. «Es war eine lange Reise mit Ivan, aber Gott und Jesus Christus waren mit mir.»
Der gedemütigte und lächerlich gemachte Lendl lässt seinem Ärger freien Lauf. «Ich konnte die Mücke dort drüben einfach nicht totschlagen. Michael hat grossen Kampfgeist bewiesen und verdient meine Hochachtung», bilanziert «Ivan, der Schreckliche». «Es war das verrückteste Match, das jemals in Paris, wenn nicht in der ganzen Tennisgeschichte gespielt wurde», wird John McEnroe noch 20 Jahre später sagen.
Während Lendl Paris verbittert verlässt, setzt Chang seine Siegesserie fort. Im Viertelfinal schlägt er Ronald Agénor, im Halbfinal Andrei Tschesnokow in vier Sätzen. Und auch im Final ist der Shooting-Star nicht mehr zu stoppen. Der 17-Jährige bodigt nach einem 1:2-Satzrückstand auch Stefan Edberg und krönt sich zum bis heute jüngsten Grand-Slam-Sieger.
Trotz insgesamt 34 Turniersiegen bleibt es der grösste Erfolg in Changs Karriere. Bis heute wird der spätere Coach von Kei Nishikori immer wieder auf seinen Exploit von damals angesprochen. Immer wieder sagt Michael Chang das gleiche: «Diese zwei Wochen in Paris waren ein grosser Spass, die beste Zeit meines Lebens.»