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Theranos: Der Prozess gegen Elizabeth Holmes hat begonnen

Wollte die Nachfolgerin von Steve Jobs werden: Elizabeth Holmes.
Wollte die Nachfolgerin von Steve Jobs werden: Elizabeth Holmes.bild: shutterstock.

Schlechtes Blut – oder der grösste Betrug im Silicon Valley

Mit ihrem angeblichen Blutanalysegadget hat Elizabeth Holmes alle getäuscht: Rupert Murdoch, Henry Kissinger und auch Jim Mattis. Jetzt hat der Prozess gegen die mutmasslich grösste Betrügerin des Silicon Valleys begonnen.
07.09.2021, 09:4607.09.2021, 13:37
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«Fake it until you make it» (Täusch etwas vor, bis es funktioniert) ist ein beliebtes Motto in der Start-up-Szene des Silicon Valley. Viele technische Sensationen werden mit üblen Kinderkrankheiten und grossspurigen Versprechen auf den Markt geworfen. Meist verschwinden diese Heilsbringer jedoch genau so schnell, wie sie aufgetaucht sind.

Nicht so bei Elizabeth Holmes. Sie beherrschte das Täuschungsspiel perfekt. Die Gründerin eines Unternehmens namens Theranos steht im Mittelpunkt der vielleicht unglaublichsten Geschichte des Silicon Valley. Erzählt wird sie vom «Wall Street Journal»-Reporter John Carreyrou.

Die unglaubliche Geschichte der Elizabeth Holmes als Video.Video: YouTube/ReasonTV

Holmes wurde über Nacht mehrfache Milliardärin. Sie hatte Männer wie die beiden ehemaligen US-Aussenminister Henry Kissinger und George Shultz im Verwaltungsrat, ebenso den späteren Verteidigungsminister Jim Mattis.

Sie hatte Channing Robertson, einen Star an der Eliteuniversität Stanford, als Götti, und sie hatte Leute wie den Medienmogul Rupert Murdoch oder die aktuelle Bildungsministerin Betsy DeVos als Investoren.

Holmes hatte vor allem eine Story zu erzählen: Sie wollte das iPhone der Medizin erfunden haben, einen Minicomputer, der mittels eines einzigen Blutstropfens mehr als 200 Krankheiten innert Minuten diagnostizieren konnte.

Die Gründerin

Elizabeth Holmes’ Grossvater war einst ein erfolgreicher Unternehmer. Seine Nachkommen verschleuderten jedoch sein Erbe. Die junge Elizabeth war eine ausgezeichnete Schülerin mit einem klaren Ziel vor Augen: «Was möchtest du werden, wenn du gross bist?», schreibt Carreyrou. «Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken antwortete Elizabeth: «Milliardärin.»

SAN FRANCISCO, CA - JANUARY 9: Apple CEO Steve Jobs holds up the new iPhone that was introduced at Macworld on January 9, 2007 in San Francisco, California. During the keynote Jobs introduced the new  ...
Steve Jobs war das grosse Vorbild von Elizabeth Holmes. Bild: Getty Images North America

Im Frühjahr 2002 wurde Holmes in die Stanford University aufgenommen. Sie studierte Chemietechnik und erregte sofort die Aufmerksamkeit des renommierten Professors Channing Robertson. Nach nur zwei Semestern brach sie ihr Studium ab und gründete ihr Unternehmen, das sie Theranos nannte.

Die Story

Holmes wollte das iPhone der Medizin entwickeln. Ein einziger Blutstropfen sollte genügen, um alle langwierigen Laboruntersuchungen zu ersetzen. Das Verfahren an sich war nicht neu. Jeder Diabetiker misst den Zuckergehalt in seinem Blut, indem er sich kurz in den Finger sticht.

Das medizinische iPhone hingegen versprach weit mehr: Ein Minicomputer – Edison genannt – sollte den in einer Kapsel aufgefangenen Blutstropfen in Windeseile analysieren und dabei mehr als 200 Krankheiten diagnostizieren können.

Hat nie funktioniert: Edison, das Mini-Lab von Theranos.
Hat nie funktioniert: Edison, das Mini-Lab von Theranos.

Aufwändige und teure Laboranalysen würden so überflüssig, ebenso die regelmässigen und schmerzhaften Blutentnahmen in der Armbeuge, die viele chronisch kranke Patienten über sich ergehen lassen müssen. Ärzte wären in der Lage, den Krankheitsverlauf ihrer Patienten in Echtzeit zu überwachen.

Holmes war die ideale Person für diese Story. Sie war nicht nur intelligent und tüchtig. Sie opferte sich für Theranos auf und war felsenfest von ihrer Mission überzeugt. Immer wieder erzählte sie die Geschichte ihres geliebten Onkels, der vorzeitig an Krebs verstorben war. Mit Edison wäre diese Krankheit entdeckt und sein Tod verhindert worden, so Holmes. Niemand müsse künftig frühzeitig abtreten, lautete ihr Versprechen.

Das Versprechen klang glaubwürdig, genauso wie das Auftreten von Holmes. Die glühende Verehrerin von Steve Jobs kleidete sich wie ihr Vorbild und trug ausschliesslich einen schwarzen Rollkragen-Pullover. Sie heuerte Avie Tevanian, einen von Jobs’ ältesten und engsten Freunden, als Software-Entwickler an. (Er verliess Theranos allerdings bald wieder.) Und sie sprach mit einer künstlich tiefen Stimme, die sie älter erscheinen liess, als sie war. Zudem: Weder Jobs noch Bill Gates oder Mark Zuckerberg hatten – was ihre akademischen Leistungen betrifft – etwas vorzuweisen. Es gab also keinen Grund, Holmes zu misstrauen.

Der Aufstieg

Theranos und Holmes passten perfekt in ihre Zeit. Viele Amerikanerinnen und Amerikaner haben keine oder eine schlechte Krankenversicherung und müssen die hohen Kosten für Bluttests selbst berappen. Gesund alt zu werden ist gerade im Silicon Valley sehr beliebt. Ein weiblicher Steve Jobs war zudem genau das, was sich die Tech-Szene schon lange gewünscht hatte.

Die Titelgeschichte im Fortune machte Elizabeth Holmes zum Star.
Die Titelgeschichte im Fortune machte Elizabeth Holmes zum Star.

Mit ihrem Charisma und dank ihrer guten Verbindungen gelang es Holmes, zwei wichtige Partner an Land zu ziehen: Walgreen, die grösste Drogeriekette der USA, und den Detaillisten Safeway. Beide Unternehmen schlossen mit Theranos dreistellige Millionenverträge ab.

Der eigentliche Durchbruch erfolgte jedoch, als Holmes von «Fortune» entdeckt wurde. Das Business-Magazin veröffentlichte eine euphorische Titelgeschichte. Jetzt gab es kein Halten mehr: Auch das renommierte Magazin «New Yorker» berichtete mehrheitlich positiv über Theranos. Elizabeth Holmes konnte sich bald vor Interviewanfragen kaum mehr retten.

Vize-Präsident Joe Biden reiste eigens nach Palo Alto, um Theranos mit einem Besuch zu beehren. Präsident Barack Obama zeichnete Holmes als vorbildliche Unternehmerin aus. Der Wert von Theranos explodierte. Es wurde das wertvollste «Einhorn» im Valley mit einem geschätzten Wert von rund acht Milliarden Dollar. Als Mehrheitsaktionärin stieg Holmes so in den erlauchten Milliardärs-Club auf.

Die Sekte

Holmes’ iPhone der Medizin hat nie funktioniert. Ausser bei ein paar wenigen simplen Tests hat das Mini-Lab stets versagt und teils idiotische Resultate geliefert. Theranos hat sich damit beholfen, die Tests auf herkömmlichen Geräten – etwa von Siemens – heimlich durchzuführen. Zudem hat man die Aufsichtsbehörde mit einem gefälschten Test ausgetrickst.

Lebenspartner und Unternehmens-Ekel Sunny Balwani.
Lebenspartner und Unternehmens-Ekel Sunny Balwani.

Das Charisma von Holmes hat wesentlich dazu beigetragen, dass der Betrug so lange unbemerkt geblieben ist. Interne Kritiker wurden zudem rasch abgefertigt. Bei Theranos herrschte eine Angstkultur. Verantwortlich dafür war Holmes’ damaliger Lebenspartner Sunny Balwani. Die beiden legten ihre Beziehung allerdings nie offen.

Sunny war ein Software-Ingenieur aus Pakistan, der im Dotcom-Boom der Neunzigerjahre sehr reich geworden war. Er war rund 20 Jahre älter als Holmes. Sie machte ihn zur Nummer 2 bei Theranos. In dieser Funktion tyrannisierte er die Belegschaft, überwachte Arbeitszeiten und E-Mails und stauchte Mitarbeiter, die ihm nicht passten, erbarmungslos zusammen oder entliess sie gar fristlos.

Holmes’ missionarischer Eifer und Sunnys Terror hatten Theranos in eine Sekte verwandelt. «[…] Elizabeth [erklärte] der Versammlung, dass sie hier im Begriff sei, eine neue Religion zu begründen», schreibt Carreyrou. «Wenn unter den Mitarbeitern Leute seien, die nicht daran glaubten, sollten sie jetzt gehen. Sunny formulierte es natürlich noch drastischer. Wer nicht zu uneingeschränkter Aufopferung und Treue gegenüber der Firma bereit sei, solle sich auf der Stelle ‹verpissen›.»

Der Absturz

Tyler Shultz, ein Enkel des Verwaltungsrates Shultz, hatte ebenfalls in Stanford Maschinentechnik studiert. Sein Grossvater hatte ihn mit Holmes bekannt gemacht, und er wurde zunächst ein Fan. Bald erkannte er jedoch die Tricksereien und verliess das Unternehmen desillusioniert, nicht ohne belastende E-Mails mitzunehmen. Andere wie der ehemalige Laborchef Alan Beam oder die Laborantin Erika Cheung taten es ihm gleich.

Gleichzeitig hatte sich Holmes mit Richard Fuiz, einem ehemaligen Freund der Familie und zwielichtigen Unternehmer, in einen Patentstreit verwickelt. Holmes gewann mithilfe des Staranwaltes David Boies, doch sie bezahlte dafür einen hohen Preis: Fuiz wandte sich an John Carreyrou, den investigativen Reporter des «Wall Street Journal».

Liess Theranos auffliegen: John Carreyrou, Reporter beim «Wall Street Journal».
Liess Theranos auffliegen: John Carreyrou, Reporter beim «Wall Street Journal».

Nach langer und harter Recherchierarbeit und einem harten Kampf gegen die Anwälte gelang es Carreyrou, die ehemaligen Theranos-Mitarbeiter dazu zu bewegen, auszupacken und ihm die Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Kein leichtes Unterfangen, inzwischen hatte Rupert Murdoch, der Verleger des «Wall Street Journal», 125 Millionen Dollar in Theranos investiert. Zu Murdochs Ehre sei erwähnt: Er hat nie versucht, Carreyrou an seiner Arbeit zu hindern.

Nach der Veröffentlichung von Carreyrous Story brach das Theranos-Kartenhaus sehr schnell zusammen: Die Geschäftspartner stiegen aus, die Behörden verboten, dass der Minicomputer Edison weiter eingesetzt werden durfte. Theranos musste die meisten seiner einst 800 Mitarbeiter entlassen und schliesslich den Betrieb einstellen.

Heute müssen sich Elizabeth Holmes und ihr ehemaliger Freund – inzwischen haben sie sich getrennt – vor den Richtern und den Börsenaufsichtsbehörden verantworten. Ihnen drohen hohe Bussen und lange Gefängnisstrafen.

Die Moral von der Geschichte

Aufstieg und Fall von Theranos sind eine exemplarische Geschichte für die aktuellen Zustände im Silicon Valley. Missionarischer Eifer, die Welt zu retten, vermischt sich mit grenzenloser Gier; naiver Glaube an die Technologie mit dem Wunsch nach ewiger Jugend, ja ewigem Leben.

Mit dem Mächtigen auf Du und Du: Elizabeth Holmes im Gespräch mit Bill Clinton.
Mit dem Mächtigen auf Du und Du: Elizabeth Holmes im Gespräch mit Bill Clinton.

In diesem Umfeld konnte Elizabeth Holmes ihren Betrug durchziehen. Wie weit sie selbst an ihre Mission geglaubt hat, oder immer noch glaubt, weiss sie vielleicht nicht einmal selbst. Tatsache ist, dass höchste Vertreter aus Wirtschaft und Politik ihr auf den Leim gekrochen sind. Sie alle glaubten, weil sie glauben wollten.

Die Wunder der Digitalisierung sind jedoch nicht unendlich. Was für Facebook und Google gilt, gilt nicht, wenn es um unseren Körper geht. «Im Fall von Theranos darf man nicht vergessen, dass es kein Technologieunternehmen im klassischen Sinne war», stellt Carreyrou fest. «Es war in erster Linie ein Unternehmen, das im Gesundheitswesen agierte.»

Der Prozess gegen Elizabeth Holmes begann aufgrund einer Schwangerschaft verspätet Ende August. Ihr droht eine Haftstrafe von bis zu 20 Jahren. Ein Urteil wird erst in ein paar Monaten erwartet.

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108 Kommentare
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Gipfeligeist
22.04.2019 17:35registriert Januar 2016
Bei der Finanzierung von Innovationem geht vieles falsch, wenn man mit tief gestellter Stimme und ein paar hübschen Fachbegriffen Geld zugeworfen bekommt...

Aber auf der anderen Seite; in der Schweiz liegt viel zu wenig Kapital locker, um tatsächliche Meilensteine zu unterstützen...
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Paul Badman
22.04.2019 17:25registriert November 2015
Solange es Leute gibt, die Märchen hören wollen, gibt es auch Märchenerzähler. Nur doof, dass sie nicht sehen, dass die Märchenbühne einen Vorhang hat, der die Vorführung beendet.
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Oh Dae-su
22.04.2019 18:17registriert Mai 2017
Ich fand's immer amüsant, dass man ihr die Story überhaupt abgekauft hat. Zu glauben, dass man nach 2 Semestern Chemiestudium bereits die medizinische Diagnostik revolutionieren kann, ist doch etwas speziell..
Die Vergleiche mit Mark Zuckerberg und co. lass ich hierbei auch nicht gelten. Die haben nämlich alle Softwareentwicklung betrieben. Dort kann man mit einer guten Idee als Autodidakt schon enorm viel erreichen. Die eigentliche Machbarkeit ist hierbei, im Gegensatz zur Medizinaltechnik, kaum das Problem.
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