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In Russland wächst die Angst vor den eigenen Kriegs-Heimkehrern

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Ein neues Rechtsgutachten des russischen Innenministeriums spricht von einer neuen Gefahr durch russische Veteranen.Bild: www.imago-images.de

In Russland wächst die Angst vor den eigenen Kriegs-Heimkehrern

Ein russisches Gutachten warnt vor steigender Kriminalität aufgrund heimkehrender Kriegsveteranen. Gewalt, soziale Probleme und Betrug könnten zunehmen.
19.07.2025, 22:1919.07.2025, 22:19
Finn Michalski / t-online
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Ein Artikel von
t-online

Um seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine fortzuführen, greift der russische Präsident Wladimir Putin zu allen denkbaren Mitteln. Ein neues Rechtsgutachten des russischen Innenministeriums legt nahe, dass Putin angesichts der hohen Zahl der neu verpflichteten Soldaten in Zukunft mit Konsequenzen für das eigene Land und seine Bevölkerung rechnen muss.

In dem Gutachten mit dem Titel «Die Auswirkungen der speziellen Militäroperation auf die Kriminalität in Russland» kommt der Professor Willi Maslow, der in der Rechtsabteilung des russischen Innenministeriums arbeitet, zu dem Schluss, dass die russische Gesellschaft in den kommenden Jahren mit einem ernstzunehmenden Problem der Kriminalität zu kämpfen haben wird. Als mögliche Gründe dafür werden posttraumatische Belastungsstörungen, mangelnde Resozialisierung ehemaliger Häftlinge und zerstörte Familien genannt.

Maslow stützt seine Analyse auf Daten der Justizabteilung des Obersten Gerichtshofs und des russischen Strafvollzugsdienstes. Es handelt sich um einen seltenen Einblick in das vom Krieg isolierte Russland – verfasst von einem «Vertreter des Systems», wie die britische BBC schreibt, die zuerst über das Gutachten berichtete.

Die Heimkehr der Ex-Häftlinge

Die grösste Gefahr, so Maslow, gehe von zurückkehrenden Kriegsveteranen aus, die vor ihrem Armeedienst als Straftäter inhaftiert waren. Jewgeni Prigoschin, der inzwischen verstorbene ehemalige Chef der Söldnertruppe Wagner, begann im Jahr 2022, die russischen Straflager nach Rekruten für seine Söldnerarmee zu durchkämmen. Später übernahm das Verteidigungsministerium die Rekrutierung. Die Bedingungen bis 2024 sahen vor: sechs Monate Dienst, ein monatliches Gehalt, danach Begnadigung und vollständige Löschung des Strafregisters. Ein Angebot, das das Interesse Tausender russischer Schwerverbrecher weckte.

Genaue Zahlen darüber, wie viele ehemalige Häftlinge in den Reihen der russischen Armee kämpfen, nennt das Gutachten nicht. Maslow geht jedoch davon aus, dass bereits mehrere Tausend bis mehrere Zehntausend Kriminelle begnadigt wurden – darunter Mörder, Terroristen, Drogenhändler und Vergewaltiger. Inzwischen hat das Verteidigungsministerium die Bedingungen verschärft: Heute gilt, dass bis zum Ende des Krieges gekämpft werden muss, und selbst danach bleiben die aus der Haft rekrutierten Soldaten nur auf Bewährung frei.

Die Einbeziehung von Häftlingen in das Militär ist in Russland keine neue Praxis. Schon im Zweiten Weltkrieg rekrutierte die Rote Armee in sowjetischen Gefängnissen Kämpfer für den Einsatz gegen Nazi-Deutschland. Der entscheidende Unterschied: Damals wurden vor allem Kleinkriminelle ausgewählt – man war sich einig, dass Schwerverbrecher weiterhin inhaftiert bleiben sollten.

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Russische Soldaten: Zehntausende Ex-Häftlinge könnten für den Kriegsdienst begnadigt worden sein.Bild: www.imago-images.de

«Nur eine Frage der Zeit»

Maslow kommt zu dem Schluss, es sei «nur eine Frage der Zeit», bis begnadigte Häftlinge erneut Straftaten begehen – auch, weil eine normale Wiedereingliederung ohne gezielte staatliche Unterstützung kaum möglich sei. Eine zusätzliche Gefahr sieht Maslow darin, dass aktuell viele Straftäter schon kurz nach ihrer Verurteilung aus der Haft entlassen würden und somit die Möglichkeit hätten, sich an den Beteiligten ihrer Prozesse zu rächen.

Hinzu komme, dass ehemalige Häftlinge besonders anfällig für posttraumatische Belastungsstörungen seien. Sollte diesem Phänomen nicht professionell begegnet werden, befürchtet Maslow einen Anstieg von Gewaltverbrechen in der russischen Gesellschaft – insbesondere innerhalb der Familien der Militärangehörigen. Um dem vorzubeugen, brauche es spezialisierte Psychologen, Ärzte und Rehabilitationszentren – auch in abgelegenen Regionen Russlands.

Gewalt als Teil der Propagandamaschine

Kirill Titajew, ein Forscher zum russischen Strafverfolgungssystem an der Fakultät für Geistes- und Naturwissenschaften in Montenegro, den die BBC zu Maslows Studie befragt hat, weist auf einen weiteren zentralen Punkt hin, der im Gutachten allerdings unausgesprochen bleibt: Laut Titajew sei eine zunehmende Normalisierung der Gewalt in der russischen Gesellschaft nicht zu übersehen. Während Gewaltverbrechen und Morde vor fünf Jahren noch als verpönt galten, zeichne sich heute aufgrund der Kriegserfahrung eine Gewöhnung an Grausamkeit ab.

Auch die russische Propaganda trage laut Titajew erheblich zu dieser Entwicklung bei. In der Fernsehsendung «Solowjew Live» sagte ein Moderator unverblümt, Frauen sollten die Schläge ihrer Männer ertragen. Vielmehr sollten sie «den Männern die Füsse küssen», da diese «ihr Leben für das Vaterland riskiert» hätten. Was das für Opfer häuslicher Gewalt und deren Vertrauen in das Rechts- und Hilfesystem bedeutet, lässt sich nur erahnen.

Russian President Vladimir Putin listens to Russian Academy of Sciences President Gennady Krasnikov during their meeting at the Kremlin in Moscow, Russia, Tuesday, July 15, 2025. (Mikhail Metzel, Sput ...
Der russische Präsident Wladimir Putin (Archivbild): Er gefährdet mit seiner Rekrutierungsstrategie womöglich das Wohl seiner Bevölkerung.Bild: keystone

Eine weitere Gefahr sieht Maslow im sozialen Absturz vieler Kriegsteilnehmer nach ihrer Rückkehr: Während ihres Dienstes erhalten viele ein Gehalt, das das durchschnittliche Einkommen – besonders das für Häftlinge in zukünftiger Tätigkeit – bei Weitem übersteigt. Maslow befürchtet, dass viele nach dem Krieg daher auf der Suche nach schnellem Geld sein könnten – und damit eher versucht sein könnten, Straftaten wie Diebstähle und Raubüberfälle zu begehen.

Betrugswelle bei Soldatenfamilien

Aber auch aktive Soldaten und deren Familien sind zunehmend von Verbrechen betroffen. Betrüger nutzen die verzweifelte Lage vieler Familien aus, deren Angehörige an der Front kämpfen. Sie geben sich am Telefon als Regierungsbeamte oder Geheimdienstmitarbeiter aus und behaupten, ein Angehöriger sei in Gefangenschaft geraten. Dann fordern sie Geld für angebliche Lösegeldzahlungen. Allein im Jahr 2024 soll es laut dem russischen Innenministerium etwa 640'000 solcher Betrugsfälle gegeben haben – mit einem Gesamtschaden von rund 170 Milliarden Rubel (etwa 1,8 Milliarden Euro).

Der Soziologe Kirill Titajew mahnt jedoch zur Vorsicht bei der Interpretation von Maslows Analyse. Der Rechtsprofessor stütze sich zu stark auf blosse Verurteilungszahlen, sagt Titajew. Dabei handle es sich seiner Einschätzung nach nicht ausschliesslich um Gewaltverbrechen oder Morde. Die Zahl der Schwerverbrecher, die tatsächlich in die Gesellschaft zurückkehren, dürfte laut Titajew also geringer ausfallen. Maslows Schlussfolgerung, dass es einen Anstieg schwerer Verbrechen zu verzeichnen gebe, sei irreführend, wenn in den Statistiken auch Straftaten wie Unterschlagung oder Amtsmissbrauch zu finden sind, so Titajew.

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99 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Bejat
19.07.2025 22:51registriert Oktober 2015
Das ist dann die Ernte von dem was Ptn gesät hat.
Allerdings rate ich Herrn Maslow sich von Fenstern fern zu halten und keinen Tee mehr zu trinken.
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Amateurschreiber
19.07.2025 22:55registriert August 2018
Als Russe würde ich mir mehr Sorgen machen wegen der Normalos, die nicht zurückkommen. Also die, die ausgewandert sind und die, die im Krieg gefallen sind. Diese werden in der Wirtschaft und in der Gesellschaft fehlen. Da sie auch keine weitern Kinder in die Welt setzen und gross ziehen können, wird das noch Jahrzehnte lang Folgen haben.
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raab23@gmail.com
19.07.2025 22:57registriert Mai 2022
Wenn Putin das Problem nicht sehen will und man nicht wegen Kritik an der armee vor Gericht gezerrt werden will..... Selber schuld!
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