Auf der Meinungsseite des «Wall Street Journal» werden einmal mehr konservative Krokodils-Tränen vergossen. «Er hat uns Normalität verkauft – Mr. Biden werde ein kompetenter, beruhigender, überparteilicher Moderater sein, der einen Kampf ‹um die Seele der Nation› führen werde», klagt das Blatt. «Das war damals. Nun entpuppt er sich als radikaler, aggressiver Parteipolitiker, der eine Art politische Revolution vorantreibt, welche er noch in den Primärwahlen verurteilt hat.»
In der «Financial Times» tönt es derweil weit nüchterner. Von der angeblichen Radikalität Bidens bleibe bei genauerem Hinschauen wenig übrig, so das Blatt. «Es wäre eine massive Übertreibung, wollte man die Vorlagen Bidens mit den radikalen Veränderungen vergleichen, welche der New Deal von Franklin Roosevelt oder die Great Society (der Sozialstaat) von Lyndon Johnson hervorgebracht haben.»
Was ist nun richtig? Tatsächlich hat Präsident Biden innert kurzer Zeit ein 1,9-Billionen-Dollar-Hilfspaket durch den Kongress geschleust und zwei weitere Mammutprogramme vorgelegt: ein 2,3-Billionen-Dollar-Infrastrukturprogramm und ein 1,8-Billionen-Dollar-Programm zur Unterstützung der Mittelstandsfamilien.
Das Ziel dieser Programme ist jedoch keine revolutionäre Umgestaltung der amerikanischen Gesellschaft. Es handelt sich vielmehr um eine Art Wiederherstellung eines Zustandes, den es bereits einmal gegeben hat.
Die USA waren nicht immer eine neoliberale Hölle, wie hierzulande viele glauben. So schreibt die schwarze Ökonomin Heather McGhee in ihrem Buch «The Sum of Us» (sehr lesenswert übrigens):
Der Neoliberalismus und eine Gewinner-nehmen-alles-Mentalität haben diese Gesellschaft zerstört. Die Digitalisierung droht, den Trend hin zu immer noch mehr Ungleichheit und Sozialabbau zu verschlimmern. Das zeigen die jüngsten Jahresabschlüsse der IT-Giganten.
Um eine dystopische Gesellschaft zu verhindern, in der eine schmale, absurd reiche Elite über einem zunehmend ausgepowerten Mittelstand thront, muss dieser Trend gebrochen werden. Das ist denn auch im Wesentlichen das Ziel der Biden-Agenda, die er in seiner Rede an die Nation vorgestellt hat.
Verschiedene Umstände haben dazu geführt, dass der an sich moderate Biden sich bis zu einem gewissen Grad radikalisiert hat. Zum einen hat die Coronakrise eine neue Ausgangslage geschaffen. So erklärt Matt Bennett von der moderaten Denkfabrik Third Way in der «New York Times»:
Gleichzeitig ist eine Politik über die Parteigrenzen hinaus derzeit in den USA praktisch unmöglich geworden. Die Republikaner sind am Durchdrehen. «Joe Biden hat es mit einer Bande von aufrührerischen, anti-demokratischen Spinnern zu tun», so Bennett. «Man kann nicht mit Menschen verhandeln, welche das Wahlergebnis umstürzen wollten. Es geht schlicht nicht, selbst wenn du gemässigt bist.»
Schliesslich hat Biden den Megatrend der aktuellen Zeit erkannt. Von wegen «Seuchen-Sozialismus». Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage des Pew Research Centre hat ergeben, dass eine grosse Mehrheit der Menschen in den Industriestaaten die Nase voll haben von der neoliberalen These des bösen Staates. Die Coronakrise hat genau das Gegenteil bewirkt. «Die Linken gewinnen den Kampf der Ideen», stellt Chris Giles in der «Financial Times» fest und kommt zum Schluss:
Biden will mehr als eine gerechtere Gesellschaft und eine nachhaltigere Wirtschaft. In seiner Rede hat er immer wieder betont, wie wichtig es sei, die beschädigte amerikanische Demokratie wieder herzustellen.
Tatsächlich drehen die Republikaner nicht nur durch, sie treten immer offener die Demokratie mit Füssen. In republikanisch beherrschten Bundesstaaten sollen Schwarze mit neuen Gesetzen von der Urne ferngehalten werden. In Arizona ist aktuell eine an Absurdität nicht zu überbietende Nachzählung im Gang, welche die Big Lie von Trump einmal mehr herbeizwingen soll.
So wie einst Franklin Roosevelt mit seinem New Deal einen möglichen amerikanischen Faschismus verhindert hat, könnte Joe Biden mit seinem Pragmatismus einen autokratischen Staat im Sinne von Donald Trump abblocken. Francis Fukuyama drückt dies in der «Financial Times» wie folgt aus: