Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben das Thema wirtschaftliche Unabhängigkeit wieder weit nach oben auf die politische To-do-Liste gespült. Komplexe Lieferketten werden kritisch überprüft und die Abhängigkeit von Energie neu überdacht. Die USA wollen ihre Wirtschaft teilweise von China abkoppeln. Derweil versucht Europa so gut es geht, auf russisches Gas und Öl zu verzichten.
Umgekehrt ist man in Peking ebenfalls fieberhaft dabei, die Abhängigkeit vom Westen zu vermindern. Die «Financial Times» spricht bereits von einer neuen «Festung China». Ein entscheidender Faktor ist dabei der starke Mann der Kommunistischen Partei, Präsident Xi Jinping.
Kevin Rudd hat lange in China gelebt, spricht Mandarin, und als ehemaliger Premierminister von Australien hat er Xi persönlich kennengelernt. In seinem Buch «The Avoidable War» beschreibt er ihn wie folgt:
Nach seinem «langen Marsch» und dem Sieg über die Nationalisten hat Mao Zedong einst Selbstversorgung und wirtschaftliche Unabhängigkeit zur höchsten Staatsmaxime erklärt. Dabei nahm er in Kauf, dass im «Grossen Sprung vorwärts» und der «Kulturrevolution» rund 50 Millionen Menschen verhungerten. Er nahm auch in Kauf, dass die Wirtschaft Chinas auf Steinzeit-Niveau zurückfiel und die Chinesen ausser der legendären «eisernen Reisschale» wenig bis nichts zum Leben hatten.
Nach Maos Tod erlebte China dank Deng Xiaoping den grössten Wirtschaftsboom in der Geschichte der Menschheit. Zumindest wirtschaftlich öffnete sich das Riesenreich. Es trat der Welthandelsorganisation bei und wurde in der Folge zur Werkstatt der Welt.
Der Wirtschaftsboom erlöste zwar hunderte von Millionen Menschen aus bitterster Armut. Er hatte jedoch auch zur Folge, dass eine superreiche Elite entstand, etwas, das sich nur schlecht mit den sozialistischen Idealen in Übereinstimmung bringen lässt, selbst wenn dieser Sozialismus bekanntlich einen «chinesischen Charakter» hat.
Dem marxistischen Nationalisten Xi hat diese Entwicklung nie wirklich gepasst. Oder wie Rudd sich ausdrückt: «Er glaubt nicht, dass die Bewohner der chinesischen Städte existenziell auf Dinge wie Uber und Videogames angewiesen sind, oder dass globale orientierte Finanzdienstleister die besten Studenten der Hochschulen aufsaugen sollen.»
Seit Beginn seiner Amtszeit gibt Xi deshalb Gegensteuer. Er will China zwar nicht in Maos Reisschalen-Steinzeit zurückführen, er will jedoch sowohl die Auswüchse des Staatskapitalismus zurückbinden, als auch die Abhängigkeit vom Westen, insbesondere den USA, auf ein Minimum beschränken.
Im Jahr 2020 lancierte er daher ein Wirtschaftsprogramm mit dem Titel, der übersetzt lautet: «sich aus eigener Kraft verjüngen». Das Ziel dieses Programms fasst Rudd wie folgt zusammen: «Es handelt sich um eine Wiedergeburt der Obsession aus der Mao-Ära, mit der alle Angriffsflächen und Druckversuche aus dem Ausland eliminiert werden sollen.»
Während es bei Mao noch um Getreide und Stahl ging, steht bei Xi Hi-Tech im Vordergrund. Weil die Chinesen alle bisherigen industriellen Revolutionen verschlafen haben, will man nun an vorderster Front dabei sein, ja auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz will China gar bis Mitte dieses Jahrhunderts führend sein.
Deshalb werden gewaltige Anstrengungen unternommen und gewaltige Summen aufgewendet. Die «Financial Times» meldet, dass allein für die Entwicklung von Halbleitern 150 Milliarden Dollar zu Verfügung gestellt werden. Zum Vergleich: Die US-Regierung hat kürzlich ein Programm verabschiedet, das bloss ein Drittel dieser Summe umfasst.
Dieser Aufwand lässt sich erklären. «Halbleiter gelten als die Achilles-Ferse der chinesischen Industrie», stellt die «Financial Times» fest. «Im Jahr 2020 mussten Halbleiter in der Höhe der satten Summe von 378 Milliarden Dollar eingekauft werden.» Ein grosser Teil dieser Halbleiter wird aus den USA importiert.
Auch was die Ernährung betrifft, ist China stark vom Ausland abhängig. Letztes Jahr sei beispielsweise bloss ein Drittel des Bedarfs an Soja-, Erdnuss- und Rapsöl aus inländischer Produktion gekommen, schreibt die «Financial Times». In den Neunzigerjahren waren es noch 100 Prozent.
Um der Bevölkerung genügend Nahrung zur Verfügung stellen zu können, sollen offenbar nun auch genmanipulierte Pflanzen eingesetzt werden, etwas, das bisher auf starken Widerstand gestossen ist. Mit dem Erwerb der Schweizer Firma Syngenta hat man sich das nötige Know-how eingekauft.
Der Ausschluss der russischen Banken von Swift, einer Art WhatsApp der internationalen Finanzwelt, hat auch Peking aufgerüttelt. Die Abhängigkeit vom Dollar ist auch den Chinesen schmerzlich bewusst worden. Mit der Einführung eines digitalen Renminbis will man so bald wie möglich Gegensteuer geben. Allerdings gibt es da noch viel Luft nach oben. 2019 hat der Anteil des Renminbis am internationalen Währungssystem gerade mal zwei Prozent betragen.
Um den aktuellen Wohlstand aufrechtzuerhalten und eine Massenarbeitslosigkeit zu vermeiden, ist China auf ein Wirtschaftswachstum von jährlich sechs Prozent des Bruttoinlandprodukts angewiesen. Ob sich dieses Ziel mit einem marxistisch-nationalistischen Kurs erreichen lässt, wird sich weisen.