Im Jahr 2013 lähmte ein unendliches Gerangel um griechische Staatsschulden die EU und führte den Euro an den Rand eines Kollaps. Dann wurde Mario Draghi neuer Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Er trat vor die Medien und versprach, er werde alles unternehmen, was nötig sei, um die Einheitswährung zu retten.
Draghis «Whatever it takes» wurde zum Zauberspruch. Die Finanzmärkte beruhigten sich schlagartig. Der Euro war gerettet, in Brüssel konnte man sich neuen Krisen zuwenden, etwa dem sich anbahnenden Brexit. Draghi seinerseits hatte seinem Übernamen erhalten. Fortan war er «Super-Mario».
Nun ist dieser Super-Mario wieder gefragt. Zunächst muss er das grösste Sorgenkind Europas, Italien, wieder auf den rechten Weg führen. Allein die Tatsache, dass er sich als Premierminister zur Verfügung gestellt hat, wird dabei schon als Erfolg gewertet. Jana Puglierin vom European Council of Foreign Relations erklärt dazu in der «Financial Times»: «Italien ist stets als Europas jugendlicher Delinquent betrachtet worden. Nun wird es zum europäischen Modell-Bürger.»
Mario Draghi muss sich fühlen wie einst Herkules, der Held der griechischen Mythologie. Dieser musste bekanntlich den Augiasstall ausmisten, eine fast unlösbare Aufgabe. Dank Misswirtschaft ist Italien in den letzten Jahrzehnten ebenfalls systematisch zugrunde gewirtschaftet worden.
Auf die Ära von Silvio Berlusconi – einem «Steuer hinterziehenden Clown mit einer Vorliebe für Sexpartys», wie sich der «Economist» ausdrückt –, folgte Matteo Renzi, der viel versprach und nichts lieferte. Darauf versuchten sich Mitglieder der Cinque-Stelle-Bewegung zusammen mit dem populistische Schreihals Matteo Salvini an den Schalthebeln der italienischen Macht.
Die Folge dieses politischen Chaos war eine marode Wirtschaft mit hoher Jugendarbeitslosigkeit und steigendem Frust in der Bevölkerung. Schliesslich hat die Coronakrise Italien besonders hart getroffen. Kein Wunder, erwarten die Italiener nicht weniger als ein Wunder von Draghi.
Bisher hat Super-Mario die an ihn gestellten Erwartungen erfüllt. Als er im Februar sein Amt übernahm, stoppte er als Erstes eine Lieferung von Impfstoffen nach Australien und stellte damit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ins Offside. Diese hatte die Organisation der EU-weiten Impfkampagne gründlich gegen die Wand gefahren. Als jedoch Recep Tayyip Erdogan die Kommissionpräsidentin desavouierte, sprang Draghi gallant in die Bresche und bezeichnet den türkischen Präsidenten als «Diktator».
Draghi will jedoch mehr als symbolische Gesten. Ähnlich wie Joe Biden die USA will er Italien mit einem Mammut-Programm rundum erneuern. Dafür hat er ein Paket in der Höhe von rund 250 Milliarden Euro geschnürt, wobei rund 200 Milliarden Euro aus dem Corona-Hilfsprogramm der EU stammen.
Der italienische Premierminister macht dabei klar, dass es um Sein oder Nichtsein geht. Vor dem Parlament in Rom erklärte er gestern: «Das Programm, das ich euch heute vorstelle, beinhaltet nicht mehr und nicht weniger als das künftige Schicksal unseres Landes.» Deshalb ist Super-Mario auch diesmal eisern entschlossen, seinem Whatever-it-takes-Motto zu folgen.
Konkret will Draghi eine digitale Transformation Italiens einleiten, die Frauen via Umschulungsprogrammen vermehrt in die Erwerbstätigkeit führen, die italienische Version eines Green New Deal durchziehen, die eklatanten Wohlstandsunterschiede zwischen dem Norden und dem Süden ausgleichen und das Gesundheitssystem erneuern. Gleichzeitig will er das verstaubte und korrupte Politsystem gründlich überholen und so dafür sorgen, dass die Milliarden nicht in den Kassen der Mafia landen.
Italiens Wirtschaft ist im letzten Jahr coronabedingt um 8,8 Prozent geschrumpft. Bereits im laufenden Jahr soll nun das Bruttoinlandprodukt (BIP) um 4,5 Prozent wachsen, 2022 sollen es gar 4,8 Prozent werden. Dafür ist Draghi bereit, eine Neuverschuldung des Staates in der Höhe von 11,8 BIP-Prozenten in Kauf zu nehmen. Die Zeiten der Austeritätspolitik sind endgültig vorbei.
Super-Mario gibt sich siegesgewiss. «Ich bin überzeugt, dass Ehrlichkeit, Intelligenz und Sorge um die Zukunft diesmal über Korruption, Dummheit und Parteiinteressen siegen werden», erklärte er vor dem Parlament.
Anders als die italienischen Politiker vor ihm geniesst Draghi das Vertrauen seiner Kollegen in Brüssel. Dank seiner Zeit bei der EZB kennt er die meisten von ihnen persönlich. Weil Angela Merkel im Herbst in den Ruhestand tritt, wird Draghi bereits als der neue starke Mann in Brüssel gehandelt, denn der französische Präsident Emmanuel Macron wird sich bald um seine Wiederwahl kümmern müssen, Ursula von der Leyen ist seit der Impf-Panne arg angeschlagen. «Draghis Auftauchen auf der europäischen Bühne ist ein grosser Game-changer», sagt denn auch Georgina Wright vom Institut Montaigne in Paris.
Ebenfalls begeistert von Draghi ist die internationale Presse. In der «NZZ» gerät Andrea Spalinger geradezu ins Schwärmen: «Italien hat eine einmalige Chance zur Veränderung: dank einem milliardenschweren Hilfspaket aus Brüssel, das nicht nur die Folgen der Pandemie dämpfen, sondern auch jahrzehntealte strukturelle Probleme beheben könnte.»
Alle happy also? Nicht ganz. Der «Economist» outet sich als Bedenkenträger. Italien zu reformieren sei keine rasche Angelegenheit», gibt das renommierte britische Magazin zu bedenken. Draghi sei bereits 73-jährig und spätestens in zwei Jahren müsse der technokratisch ernannte Premierminister einem ordentlich gewählten weichen.
Super-Mario ist für den «Economist» somit im besten Fall eine Notlösung. «Einen entscheidenden Wechsel kann er nicht herbeiführen. Das Einzige, was er hinterlassen kann, ist ein Plan für seine Nachfolger. Doch dann werden bereits wieder Bedenken aufkommen, dass Italien ins alte System zurückfallen wird.»
Es bräuchte eine angebotsorientierte Reform der Gesetzgebung. Sonst schaffen die Firmen weiterhin lieber anderswo Jobs. Beispielsweise in der Schweiz. Auch wenn die Angestellten in der Schweiz weitaus teurer sind.