Jahrelang haben sich die Briten in den Brexit-Fragen gegenseitig zerfleischt. Inzwischen wird das Thema von keinem Politiker mehr angefasst, nicht einmal mit einer Mistgabel. Zu tief sitzen die Wunden, zu gross die Angst, sie wieder aufzureissen. Selbst die Labour-Opposition und die ehemaligen Brexit-Gegner halten sich zurück.
Das politische Vogel-Strauss-Verhalten kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wirtschaftlichen Schäden des britischen Alleingangs immer sichtbarer werden. In einem grossen Report hat die «Financial Times» nun aufgezeigt, dass die Ökonomen, welche vor dem Brexit gewarnt haben, recht bekommen.
«Der sechste Jahrestag der Abstimmung im Vereinigten Königreich, die EU zu verlassen, nähert sich», stellt die «Financial Times» fest. «Nun beginnen die Ökonomen, den durch die neu errichteten Handelsbarrieren verursachten Schaden zu quantifizieren. Dabei versuchen sie, den ‹Brexit›-Effekt von den Covid-Folgen zu trennen. Sie kommen zum Schluss, dass der Schaden tatsächlich eingetroffen und dass es noch nicht vorbei ist.»
Tatsächlich ist der Brexit wirtschaftlich gesehen ein Flop. Das Vereinigte Königreich wird im nächsten Jahr das niedrigste Wirtschaftswachstum aller G20-Länder haben – mit Ausnahme von Russland. Das hat die OECD in ihrer jüngsten Prognose bekannt gegeben.
Selbst britische Stellen kommen zu diesem Ergebnis. So sieht das Office for Budget Responsibility keinen Anlass, eine Voraussage aus dem März 2020 zu revidieren. Damals wurde eine sich abschwächende Produktivität der Wirtschaft und ein Schrumpfen des Bruttoinlandprodukts um vier Prozentpunkte vorausgesagt.
Die Folgen fasst die «Financial Times» so zusammen: «Das Ausmass dieses Niederganges bedeutet den Verlust von 100 Milliarden Pfund an verlorenem Output der Wirtschaft, und das wiederum bedeutet, dass das Finanzamt auf rund 40 Milliarden Pfund Steuereinnahmen verzichten muss.»
Umgekehrt ist von den versprochenen Segnungen, welche der Alleingang mit sich bringen sollte, nichts zu spüren. «Den Ökonomen ist es bisher nicht gelungen, auch nur Spuren von positiven Folgen dieser Politik zu finden», stellt die «Financial Times» nüchtern fest.
Die boshafte Ironie des Schicksals will es zudem, dass Nordirland mit Ausnahme von Grosslondon die besten Wirtschaftsdaten vorweisen kann. Um den Frieden mit Irland nicht aufs Spiel zu setzen, darf Nordirland weiterhin wirtschaftlich Teil der EU bleiben, allerdings mit komplexen Zollbestimmungen.
Premierminister Boris Johnson will deshalb das Nordirland-Protokoll wieder rückgängig machen. Er würde damit nicht nur einen von ihm selbst ausgehandelten Vertrag brechen, er würde sich selbst ins Knie schiessen. So erklärt ein nordirischer Kleinunternehmer gegenüber dem «Economist»: «Boris und seine Boys befinden sich auf einer Kamikaze-Mission. Europa ist ihr wichtigster Markt – und sie zeigen den Europäern den Mittelfinger.»
Nach der Brexit-Abstimmung sackte das britische Pfund auf den Devisenmärkten ab. Eigentlich hätte die Exportwirtschaft davon profitieren müssen, das tat sie jedoch nicht. Dafür wurden die negativen Folgen rasch sichtbar. Die Inflation stieg, weil die Importe teurer wurden. Dieser Schock konnte bis heute nicht kompensiert werden. Deshalb stellt das Centre for Economic Policy Reserach fest: «Der Brexit hat dem britischen Lebensstandard rasch einen negativen Schock verpasst.»
Diesen Schock bekommen allmählich auch die regierenden Konservativen und vor allem Premierminister Boris Johnson zu spüren. Sein Lausbuben-Charme verfängt nicht mehr. Eine Vertrauensabstimmung in der eigenen Partei hat er nur knapp überstanden. Und bereits morgen droht ihm neues Unheil: In zwei Nachwahlen werden die Tories wahrscheinlich ihre Sitze verlieren. Wie lange Johnson danach noch an der Downing Street 10 bleiben kann, ist offen.
Nicht nur Johnson, auch die Konservative Partei steckt in gröberen Schwierigkeiten. Der britische Journalist Samuel Earle fasst ihre Probleme in einem Gastkommentar in der «New York Times» wie folgt zusammen: «Die Löhne sind real seit 2010 nicht mehr angestiegen, die Austeritätspolitik hat die Lokalbehörden ausgehöhlt und die regionalen Wohlstandsunterschiede verschärft. Der schmerzhafte Abschied Grossbritanniens von Europa, der von den Konservativen ohne richtigen Plan vorangetrieben wurde, hat dies alles noch schlimmer gemacht.»
Trotz des tief sitzenden Brexit-Schocks werden daher zunehmend leise Stimmen laut, welche sich für eine Annäherung an den alten Kontinent aussprechen. Selbstverständlich steht ein erneuter EU-Betritt nicht zur Diskussion. Doch Labour-Chef Keir Starmer verspricht, seine Partei werde nach einem allfälligen Wahlsieg unter dem Slogan «Make Brexit work» nach Wegen suchen, wie man das bestehende Handelsabkommen mit der EU wieder ausweiten könnte.