Sergio Marchionne verstarb an dem Tag, an dem sein Nachfolger an der Spitze von Fiat Chrysler Automobiles (FCA), Mike Manley, bekannt geben konnte, dass der Konzern nun schuldenfrei sei. Dieses Ziel hatte Marchionne vor sechs Jahren verkündet, als er den Business-Plan 2012–2018 vorstellte. Der Plan sei «nichts für schwache Herzen», hatte der Konzernchef damals gesagt.
Aber Marchionne hat sein Versprechen gehalten. Dass der 66-Jährige lebensbedrohlich erkrankt war, hatte die Öffentlichkeit erst am vergangenen Samstag erfahren. Es hiess, dass nach einer Schulteroperation im Unispital Zürich Komplikationen aufgetreten seien. Über die genaue Todesursache ist gestern nichts bekannt gegeben worden.
Marchionne, der Manager im schwarzen Rollkragenpulli, war im Belpaese eine Ikone, ein italienischer Steve Jobs. Mit der Sanierung des Fiat-Konzerns hat er eine Art Wunder vollbracht, das nur die wenigsten für möglich gehalten hätten. Denn als der Sohn eines Carabiniere aus den Abruzzen im Jahr 2004 das Kommando in der «Fabbrica Italiana Automobili Torino» (Fiat) übernahm, war der grösste Industriekonzern des Landes praktisch bankrott.
Fiat hatte 15 Milliarden Euro Schulden, verbrannte 2 Millionen Euro am Tag und gehörte faktisch den Gläubigerbanken. Unter Marchionne genas der todkranke Patient – und wurde durch die Fusion mit Chrysler im Jahr 2009 zum globalen Player mit rund 4,7 Millionen verkauften Fahrzeugen.
Das Wunder gelang dem Top-Manager dank seiner finanztechnischen Brillanz, harten Verhandlungsmethoden – und einer beträchtlichen Dosis Waghalsigkeit. Den ersten Coup landete Marchionne bereits kurz nach Amtsantritt: Er liess sich von GM 1.55 Milliarden Dollar bezahlen, damit der US-Autobauer eine Übernahmeoption nicht ausüben musste.
Oder mit anderen Worten: Der amerikanische Bräutigam zahlte, damit er die verarmte italienische Braut nicht heiraten musste. Es hiess, Marchionne habe Fiat in den Verhandlungen derart schlechtgeredet, dass die GM-Manager in Panik gerieten. Die Dollars aus den USA investierte Marchionne anschliessend in die Sanierung des eigenen Konzerns.
Marchionne hat den wie einen Staatsbetrieb geführten, durch und durch maroden Fiat-Konzern in Rekordtempo ausgemistet, flache Hierarchien eingeführt, auf Effizienz getrimmt – und dafür gesorgt, dass die Autos wieder jene «Italianità» versprühen, für die sie einst in ganz Europa geliebt wurden.
Während die gut bezahlten Führungskräfte in den Teppichetagen gehen mussten, behielten die Mitarbeiter in den Werkhallen ihre Stelle: «In unserer Branche entfallen weniger als zehn Prozent der Kosten auf das Personal. Ein Auto-Manager, der glaubt, seine Firma mit Entlassungen retten zu können, hat seine Hausaufgaben nicht gemacht», sagte Marchionne. Dieser Satz hat ihm bei den Gewerkschaften eine Art Heiligenstatus beschert.
Doch als der Fiat-Konzern im Jahr 2008 brutal von der Finanzkrise erfasst wurde, kam auch Marchionne nicht darum herum, Werke zu schliessen und Kurzarbeit einzuführen. Danach liess er es mit den streiklustigen Gewerkschaften auf eine weitere Kraftprobe ankommen: Der Konzernchef wollte die starren nationalen Tarifverträge durch flexible betriebliche Vereinbarungen ersetzen.
Im Gegenzug versprach er Milliardeninvestitionen für die Modernisierung der Montagehallen. Die Mehrheit der Belegschaft stimmte dem von Marchionne vorgeschlagenen Deal schliesslich zu. Von den weltweit 236‘000 Beschäftigten des FCA-Konzerns arbeiten 80‘000 in Italien.
Das mutigste Husarenstück des Fiat-Sanierers war jedoch die Fusion mit dem US-Autobauer Chrysler. Marchionne liess sich den Konzern, der von der Regierung von Barack Obama vor dem Konkurs gerettet worden war, praktisch schenken; im Gegenzug hat Fiat sein Know-how eingebracht. Daimler hatte im Jahr 1998 für die völlig verunglückte Übernahme Chryslers noch 36 Milliarden Dollar auf den Tisch gelegt, wie in Turin gerne erwähnt wird.
Seit der Fusion von Fiat und Chrysler zu FCA hat die Marke Jeep die Verkaufszahlen vervierfacht. Für den europäischen Markt wird der kleine Jeep Renegade in Italien produziert – zusammen mit seinem technisch weitgehend identischen italienischen Bruder, dem Fiat 500X.
Der Tod Marchionnes, der 2006 vom damaligen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano zum «Cavaliere del lavoro», zum Ritter der Arbeit, geschlagen worden war, hat in Italien gestern Betroffenheit und Trauer ausgelöst. «Ich und meine Regierung sprechen unser herzliches Beileid an die Familie und an alle seine Lieben aus», erklärte Ministerpräsident Giuseppe Conte.
#Marchionne Grazie per il lavoro, la fatica, i risultati. E per l’orgoglio italiano portato nel mondo
— Paolo Gentiloni (@PaoloGentiloni) 25. Juli 2018
Der frühere italienische Ministerpräsident Paolo Gentiloni bedankte sich in einem Tweet bei Marchionne: «Danke für die Arbeit, die Mühe, die Resultate – und für den italienischen Stolz in der Welt.» Das Parlament legte eine Schweigeminute ein.