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Wer derzeit auf YouTube «Russia Today» (RT) guckt, wird unschwer feststellen, dass vernichtende Berichte über das geplante Freihandelsabkommen zwischen den USA und Europa, TTIP genannt, ein Schwerpunktthema geworden sind. Dieselbe Erfahrung macht, wer auf Facebook die Einträge der Gruppe «Anonymous» verfolgt.
RT und «Anonymous» sind Teil eines russischen Propagandafeldzuges gegen den Westen. Nebst übler Stimmungsmache gegen Flüchtlinge wie im Fall Lisa konzentrieren sich die Putin-Trolle derzeit auf das Freihandelsabkommen. Und wie bei der Flüchtlingshetze wissen sie genau, dass sie damit ins Schwarze treffen.
Freihandel ist in Verruf gekommen, dazu braucht es kein Leak von Greenpeace. Das Versprechen der Ökonomen klingt mittlerweile hohl. Anstatt mehr Wohlstand schauen für den Mittelstand unter dem Strich mehr Ungleichheit und mehr Unsicherheit heraus, anstatt sichere Jobs ein Absinken ins Prekariat.
In den USA hat dieser Prozess bereits dramatische Ausmasse angenommen. Seit Nafta, das Freihandelsabkommen mit Kanada und Mexiko, in Kraft ist, hat sich die Lage des weissen Mittelstandes dramatisch verschlechtert: Die Löhne stagnieren oder sinken, die Selbstmordrate ist auf einem Rekordhoch, erstmals ist die durchschnittliche Lebenserwartung rückläufig. Wer sich über den Triumphzug von Donald Trump wundert, lebt auf einem anderen Planeten: Drei Viertel seiner Fans sind überzeugt, dass das Leben in den letzten Jahrzehnten schlechter geworden ist.
Lange war die Opposition gegen den Freihandel eine Sache von Linken und Umweltschützern. Inzwischen haben auch die neuen Rechten das Thema entdeckt. Ob Front National oder Alternative für Deutschland, ob Ungarn oder Polen: Überall prangern sie den Freihandel und den amerikanischen Kapitalismus an und stossen dabei auf immer mehr Zustimmung.
In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts hatte der Freihandel seine Berechtigung. Damals spielte er sich in einem geordneten Rahmen ab. Heute ist er ausser Kontrolle geraten. Globalisierung bedeutet nun nicht mehr billigere Nahrungsmittel und bessere Smartphones, es wird übersetzt mit Steuervermeidung des neuen Geldadels und Ökodesaster.
Die negative Stimmung gegen TTIP und andere Abkommen wird sich noch verstärken, denn der technische Fortschritt richtet sich ebenfalls immer mehr gegen den Mittelstand. So berichtet die «Financial Times» von einem Investitionsboom bei Robotern. Viele Menschen würden in den nächsten zwei bis fünf Jahren in Kontakt mit Robotern geraten, warnt Steve Jurveston, Direktor bei Tesla. «Es gibt bald kein mechanisches oder physisches Ding mehr, das ein Mensch besser machen kann als ein Roboter.»
Die Kombination Globalisierung und Digitalisierung ist eine politische Zeitbombe, und die Zündschnur brennt bereits. Die Abstiegsängste des Mittelstandes lassen sich mit der Kombination von Fremdenhass und Raubtierkapitalismus bestens instrumentalisieren. Österreich wählt möglicherweise demnächst einen faschistoiden Präsidenten. In Polen und Ungarn ist die freie Presse auf dem Rückzug, in Deutschland die AfD auf dem Vormarsch. In der Schweiz sorgen derweil die Krawallbrüder der SVP für ein politisches Klima, das immer unerträglicher wird.
Theoretisch sorgt Freihandel für mehr Wohlstand, und die klassischen Ökonomen werden nicht müde, uns vorzurechnen, um wie viele hundert Milliarden Dollar das globale BIP wachsen und wie viele Prozentpunkte die nationalen BIPs davon profitieren würden. Kein Mensch glaubt mehr an diese Zahlen. Wenn überhaupt jemand profitiert, dann eine schmale Elite. Der grosse Rest guckt in die Röhre.
Deshalb ist es höchste Zeit, dass die Ökonomen ihre Theoriebücher und ihre heiss geliebten Modelle wegwerfen und einen Blick in die Realität wagen. Dann werden sie unschwer erkennen, dass wir nicht mehr Globalisierung, sondern mehr Regionalisierung brauchen. Die weltumspannenden Supply Chains haben ausgedient, die Wirtschaft muss wieder näher zu den Menschen gebracht werden. Wenn nicht, dann gnade uns Gott!