Corona hat dem Neoliberalismus den Rest gegeben. Vom «Economist» bis hin zur «NZZ» klagen alle über Big Government. Aber ist das so schlimm?
In den Neunzigerjahren forderten alle einen schlanken Staat, auch linke Politiker wie der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder oder der britische Premierminister Tony Blair.
US-Präsident Bill Clinton verkündete gar «das Ende von Big Government».
Nun schlägt das Pendel in die andere Richtung aus. Ich habe meine Zweifel, ob dies langfristig erfolgreich sein wird. Wenn sich der Staat als Mikromanager betätigt, drohen wichtige Dinge verloren zu gehen. Nicht alles lässt sich gesetzlich regeln.
Nun, gerade in der Corona-Krise hat sich gezeigt, dass Big Government sehr effizient ist. China beispielsweise hat weniger Covid-Tote als die Schweiz, aber rund 180-mal mehr Einwohner. Und das gilt für die meisten asiatischen Staaten. Auch Singapur oder Südkorea stehen viel besser da als wir.
In einer Notsituation kann der Staat am schnellsten reagieren, keine Frage. Auch eine professionelle Feuerwehr funktioniert besser als eine bunt zusammengewürfelte Amateur-Truppe. In normalen Zeiten jedoch stösst Big Government sehr rasch an Grenzen. Ich bin daher überzeugt, dass das Pendel bald wieder in eine andere Richtung ausschlagen wird.
Vielleicht auch nicht. Die Mehrheit der Deutschen befürwortet mittlerweile einen Impfzwang. In der Schweiz sind mir diesbezüglich keine Zahlen bekannt. Das bedeutet auch: Big Government ist derzeit sehr populär.
Das stimmt. In China scheint die Idee eines «social credit scores», eines Punktesystems, welches Verhalten bewertet, weniger Skepsis auszulösen als bei uns. Auch bei uns gibt es Big-Government Massnahmen, die populär sind. Das Rauchverbot in Restaurants beispielsweise. Was einst als Zwang und Einschränkung der persönlichen Freiheit verschrien wurde, gilt heute als selbstverständlich.
Was spricht also gegen Big Government?
Einfache Regeln, wie das Rauchverbot, können durchaus funktionieren. Ein Mikromanagement, wie im «social credit score» diskutiert, stösst schnell an seine Grenzen.
Weshalb?
Die Menschen würden darauf getrimmt, nur noch zu machen, was Punkte gibt. Das verhindert Kreativität und Innovation. Zudem gibt es kein System, dass alle Optionen erfassen kann. Deshalb wird es zwangsläufig zu Lücken kommen, die man nicht selbstverantwortlich füllt, wenn sonst für alles Regeln bestehen. Das können wir heute schon beobachten. Menschen fragen: «Muss man hier eine Maske tragen?». Stattdessen sollte die Frage lauten: «Ist es sinnvoll, hier eine Maske zu tragen?» Wir können ja nicht bei jeder Veranda mit Glasschiebetüren Herrn Berset anrufen und fragen, ob das noch als Innenbereich gilt.
China ist jedoch überzeugt, dieses Problem mit der Hilfe von künstlicher Intelligenz lösen zu können.
Falls das wirklich so ist, wäre das vermutlich illusorisch. Kein System kann alles erfassen. Das lässt sich sogar mathematisch beweisen.
Die Alternative zu Big Government ist Big Tech, oder Big Business, wie Sie es in Ihrer Studie nennen. Wo liegt der Unterschied?
Auf eine Art ist der Unterschied nicht so gross. Die Macht liegt einfach nicht beim Staat, sondern beim Markt. Aber auch dieser kann nicht jedem Verhalten ein Preisschild beifügen.
Mit anderen Worten: Es spielt keine Rolle, ob meine Überwachungs-App vom Bund oder von Apple stammt?
Nicht ganz. Es gibt einen entscheidenden Unterschied. Der Staat setzt gegen die, welche sich nicht an die Regeln halten, Zwang ein. Big Business hingegen schliesst die Renitenten aus.
Zum Beispiel?
Der Staat verordnet, dass alle Einwohner der Schweiz einer Krankenkasse angehören müssen. Bei Big Business lautet die Regel: Wer sich selbst und andere schädigt, wer beispielsweise raucht, trinkt, Drogen einnimmt oder eine besonders gefährliche Sportart ausübt, der wird aus der Krankenkasse ausgeschlossen. Er hat keinen Anspruch mehr auf Solidarität und muss seine Gesundheitskosten aus dem eigenen Sack bezahlen.
Die Krankenkassen bewegen sich – wenn auch mit kleinen Schritten – auf ein solches System hin. Wer sich von einer App überwachen lässt und dabei gute Ergebnisse vorweisen kann, darf auf eine Prämienverbilligung hoffen.
Wie beim Big Government führt dies ebenfalls zum allmählichen Verlust von Kreativität und Innovation. Oder es wird gar kontraproduktiv. Man tut bloss noch, was von der App honoriert wird. Es gibt dazu ein interessantes Beispiel aus der Welt der Call-Center. Die Mitarbeiter werden von einem Algorithmus überwacht und erhalten Punkte, wenn sie besonders freundlich mit den Kunden sind, beispielsweise, wenn sie sich entschuldigen. Die Folge davon ist, dass diese Mitarbeiter unablässig «I am sorry» sagen. Den Kunden geht dies bald auf die Nerven, aber die App ist zufrieden.
Gerade im Zeitalter von Corona werden sich Big Government und Big Business immer ähnlicher. Was wäre dann eine Alternative?
Ja, ein Modell, das wir Big Self nennen.
Und wie sieht dieses Modell aus?
Was wir in der Schweiz machen, kommt diesem Modell nahe. Der Staat gibt zwar Richtlinien vor, er geht jedoch davon aus, dass sich mündige Bürger mehrheitlich selbstverantwortlich daran halten. Gleichzeitig werden Individuen und Gemeinschaften auch befähigt, diese Selbstverantwortung zu übernehmen und diese nicht an einen Algorithmus zu delegieren, weder an einen staatlichen noch an einen privaten.
Das tönt gut in der Theorie. In der Praxis sind die Resultate bezüglich Corona jedoch nicht befriedigend. Wir sind wieder in einer Welle und wissen nicht einmal, ob es die vierte oder die fünfte ist.
Leider stehen die Appelle an die Selbstverantwortung derzeit wirklich etwas quer in der Landschaft. Wir sind in einer Notsituation, die den Staat berechtigt, durchzugreifen. Es brennt, und die professionelle Feuerwehr ist gefragt. Wir können kein Palaver abhalten und abstimmen, welches Haus wir zuerst retten wollen. Darum ist es wichtig, dass der Staat sein Handeln erklärt und so verhindert, dass die Menschen sich als Opfer empfinden.
Erklärungsversuche scheitern bei Menschen, die lieber ein Kuh-Entwurmungsmittel schlucken, als sich impfen zu lassen.
Kurzfristig greifen die Instrumente des Big Self tatsächlich zu kurz. Kollektives, selbstverantwortliches Handeln in einer Pandemie ist sehr schwierig zu verwirklichen.
In ihrer Studie gehen sie trotzdem noch einen Schritt weiter. Im Modell Big Community gehen Sie davon aus, dass Menschen freiwillig gegenseitig ihre Daten austauschen, diese mithilfe von Künstlicher Intelligenz auswerten, die Resultate via Open Source allen zur Verfügung stellen und so ein Gesundheitssystem auf die Beine stellen, in dem sich Ärzte und Patienten auf Augenhöhe begegnen. Bei allem Respekt: Ist das nicht ein bisschen sehr utopisch?
Beim GDI betrachten wir es als eine Aufgabe, manchmal über das rein Machbare hinaus zu denken. Das Modell Big Community wird nie im Massstab von eins zu eins umgesetzt werden. Aber es kann ein Anstoss dazu sein, sich in diese Richtung hinzubewegen. Es soll zeigen, dass oft mehr möglich ist als man denkt.
Was wäre in etwa denkbar?
Dass man seine Daten in einer bestimmten Gruppe teilt. Dass Patientengruppen gemeinsam Forschung betreiben. Dass Medikamente als Open Pharma Patent frei der Welt zur Verfügung stehen. Das geschieht übrigens bereits, etwa bei Krebskranken. Die Daten werden jedoch so anonymisiert, dass niemandem Schaden entstehen kann.
Schön, doch ist die Vorstellung, dass wir dank Big-Community Netzwerken plötzlich alle Experten sind, nicht auch gefährlich? So sehen sich beispielsweise die Corona-Leugner bei den Querdenkern.
Diese sind oft misstrauisch gegenüber allem – ausser ihrer eigenen Überzeugung. Bei unserem Big-Community-Modell geht es nicht darum, dass alle gleich viel wissen. Es geht nicht darum, die Experten abzuschaffen. Aber es spricht auch nichts dagegen, dass Ärzte und Patienten mehr zusammenarbeiten und sich austauschen. Patienten haben Erfahrungen, die den Ärzten fehlen und umgekehrt.
Ich hab die Nacht lieber beim Staat, den ich gewählt habe, als beim Markt…