Für die Kritiker bestätigte sich letzte Woche das Bild des Schweizerischen Gewerbeverbandes (SGV) als Spaltpilz der Wirtschaft: Hauptsache eine andere Meinung. Während Economiesuisse die Aufhebung des Euro-Mindestkurses als «nicht nachvollziehbar» beurteilte und die Wirtschaft in «grosser Sorge» wähnte, gab sich der Gewerbeverband für einmal aussergewöhnlich unaufgeregt: «Die Aufhebung des Mindestkurses als Chance packen» lautete der Titel seines Communiqués. Die Schreckensszenarien wie Arbeitsplatzverluste und Lohnkürzungen hält Verbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler für verfrüht: «Die Finanzmärkte haben überreagiert. Wir werden in den nächsten Wochen sehen, wo sich der Franken einpendeln wird.»
Trotz dieser Ungewissheit: Der SGV hat gestern nachgedoppelt und die Gunst der Stunde genutzt, um seinen politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Geschickt – und schnell. In einem offenen Brief an Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann hat der Verband ausgeführt, was er unter «Chance packen» versteht. Die Rede ist nicht mehr von Unternehmen, die genug Zeit hatten, sich auf einen stärkeren Franken vorzubereiten. Sondern davon, dass sich die Politik auf die Aufhebung des Mindestkurses ungenügend vorbereitet hat – weil sie es verpasst hat, Regulierungskosten zu senken.
Der SGV listet auf, wie die Unternehmen auf diese Weise um 2,2 Milliarden Franken entlastet werden könnten. Und welche «kostentreibenden Neuregulierungen» überflüssig seien. Das neue Finanzdienstleistungsgesetz oder die Revision des Umweltgesetzes als Gegenentwurf zur Volksinitiative «Grüne Wirtschaft» etwa. Zudem wird auch der Kampf gegen den Systemwechsel bei der Billag neu in den Kontext der Frankenstärke gestellt. Der Einsatz gegen die Regulierung und Gebühren: Diese Fahne hält Bigler auch in der Wechselkurskrise hoch. Die beiden Themen gehören zur Verbands-DNA.
Intern stösst der Kurs nicht nur auf Goodwill. Alois Gmür, CVP-Nationalrat aus dem Kanton Schwyz, unverdächtiger Braumeister mit eigenem Betrieb und Mitglied der Gewerbekammer, spricht von einem ideologischen Kurs: «Keine neuen Gebühren und Steuern – diese Forderung ist zum eigentlichen Glaubensbekenntnis geworden.» So hält Gmür das Billag-Referendum für falsch, weil mit der neuen Regelung 70 Prozent der Unternehmen künftig keine Gebühren mehr bezahlen müssten. Auch die konsequente Ablehnung der Reform des Umweltschutzgesetzes kommt Gmür in den falschen Hals: «Vielfach will der SGV gar nicht auf ein Gesetz eintreten, weil er kein Interesse an einer Diskussion hat.» Doch so könne man nicht politisieren.
Bigler kennt die Kritik: «Das ist normales Verbandsleben.» Er verweist auf die vielfältigen Interessen der Mitglieder: «Harmonie ist eine Illusion.» Das stimmt natürlich: So ist Gastro Suisse für den Systemwechsel bei der Billag, vor ein paar Monaten kämpfte man aber noch Hand in Hand mit dem SGV für die eigene Mehrwertsteuer-Initiative. Dagegen waren wiederum die Bäcker. Die Fronten wechseln ständig.
Allerdings: Die Kritik fusst nicht nur auf unterschiedlichen Interessen, sie ist auch politischer Natur. Mitte-Rechts moniert schon länger, dass der Verband unter zunehmendem Einfluss der SVP steht. Zuletzt ärgerten sich FDP- und CVP-Politiker über das Ranking des Gewerbeverbandes zu den KMU-freundlichsten Politikern – die ersten 50 Plätze belegen vorwiegend SVP-Parlamentarier. Gmür liegt auf Rang 104 unter ferner liefen – das kratzt am Selbstverständnis des Gewerblers.
Gleichzeitig hat sich das Gewerbe auch von Economiesuisse emanzipiert. Vorbei die Zeiten, als die FDP-Nationalräte Gerold Bührer und Edi Engelberger die beiden Wirtschaftsverbände führten und die Differenzen beim Jassen klärten. So attackierte der Gewerbeverband kürzlich den Wirtschaftsdachverband, weil er seinen Vorschlag zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative als «Position der Wirtschaft» bezeichnete. Von «Anmassung» und «Irreführung der öffentlichen Meinung» sprach der SGV. Schliesslich sei er der grösste Dachverband der Schweizer Wirtschaft.
Der neu entflammte Grabenkampf kam überraschend. Denn nach den gemeinsamen Erfolgen gegen die 1:12- und die Mindestlohninitiative war eine Entspannung spürbar. Schliesslich wissen beide, dass es ohne den anderen nicht geht: Economiesuisse hat das Geld, der SGV den direkten Zugang zur Basis. Beobachter wollen die Differenzen deshalb nicht überbewerten: Die Giftpfeile gegen Economiesuisse seien für den SGV identitätsstiftend – wie der Kampf gegen jedes neue Gesetz, gegen jede neue Gebühr. (trs)