Jeder Anfall kann sich im Alltag drastisch auswirken. «Betroffene können sich verletzen, dürfen nicht mehr Auto fahren, viele bekommen Schwierigkeiten in Beruf oder Ausbildung», sagt Professor Stephan Rüegg vom Unispital Basel. Die Rede ist von Epilepsie. Bei einem Anfall kommt es zu einer vorübergehenden Funktionsstörung des Gehirns. Dies kann zu einer kurzen Empfindlichkeits- oder Verhaltensstörung führen.
Möglich ist auch, dass ein Betroffener nicht mehr ansprechbar ist oder mit Erinnerungslücken kämpft. Im schlimmsten Fall leiden Patienten unter markanten Krampfanfällen inklusive Bewusstseinsverlust.
Bei rund drei Viertel aller Patienten lassen sich solche Anfälle dank Medikamenten verhindern. Im Sommer fehlte ein Präparat, das insbesondere für Patienten mit schweren Anfällen zum Einsatz kommt, darunter auch für Kinder. «Für Menschen mit Epilepsie kann der Lieferausfall ihres Medikaments schlimme Folgen haben», sagt Rüegg, der auch Präsident der Schweizerischen Epilepsie-Liga ist.
Jeder Wechsel eines Präparats, selbst mit dem gleichen Wirkstoff, könne das Risiko eines neuen epileptischen Anfalls erhöhen. Mittlerweile ist das Medikament wieder lieferbar, jedoch fehlen nun zwei andere Präparate.
Der Engpass zeigt sich jedoch längst nicht nur bei Epilepsie-Präparaten. In der Schweiz fehlen derzeit knapp 600 Medikamente. Dies zeigt die Plattform des Spitalapothekers Enea Martinelli. Er arbeitet für die Spitalgruppe Frutigen, Meiringen, Interlaken und gehört zu den Wortführern beim Thema Medikamentenengpass.
Martinelli betreibt seit rund vier Jahren eine Plattform, wo er die Engpässe der Arzneimittel nachführt. Damals zählte seine Plattform drugshortage.ch rund 230 Lieferengpässe. Nach anfänglicher Zurückhaltung melden inzwischen zahlreiche Pharmafirmen ihre Lieferausfälle freiwillig, andere Hersteller weigern sich bis heute.
Welche drastischen Folgen ein Engpass haben kann, zeigt ein Beispiel von Ende letzten Jahres. Damals war ein Wehenmittel nicht mehr lieferbar. Mancherorts seien die Spitäler auf ein vergleichbares Produkt aus dem Veterinärwesen umgestiegen, erzählt Martinelli. «Stellen Sie sich mal die Situation vor: Sie müssen zu einer Frau gehen, die am Gebären ist und ihr erklären, dass das Wehenmittel für Menschen nicht lieferbar ist, stattdessen bekommt sie nun das Mittel für Kühe.»
Sein Spital habe das Präparat für den Menschen schliesslich im Ausland beschaffen können. Er kennt einen Kollegen, der sich ins Auto gesetzt habe und nach Frankreich gefahren sei. Dort hat man ihm freundlicherweise ein paar Packungen überlassen.
Fehlende Medikamente verursachen für Spitäler und Apotheken einen grossen Mehraufwand. Die Suche nach alternativen Präparaten sei oft anspruchsvoll, sagt Martinelli. In einigen Fällen könne man relativ einfach auf eine andere Packungsgrösse oder eine andere Darreichungsform ausweichen. Oft müsse man aber auf andere Präparate zurückgreifen und etwa Medikamente direkt aus dem Ausland importieren.
Doch auch dies werde nun zunehmend schwieriger, sagt Fabian Vaucher, Präsident des Apothekerverbands Pharmasuisse. Denn das Problem ausbleibender Medikamente kennen auch andere Länder. «Heute wird schon beim Verdacht auf einen Engpass zusätzliche Ware bestellt», sagt Vaucher. Diese Hamsterkäufe verschärften das Problem und erschwerten die Planbarkeit.
Was das alles kostet, ist unklar. «Konkrete Zahlen haben wir nicht», sagt Martinelli. Er rechnet mit einem zweistelligen Millionenbetrag. Vaucher geht davon aus, dass jede Apotheke täglich ein bis zwei Stunden dafür investieren muss, um nach Alternativen Ausschau zu halten. «Daneben müssen wir auch mit dem jeweiligen Arzt Kontakt aufnehmen, um zu besprechen, welche anderen Arzneimittel für den betroffenen Patienten in Frage kommen.»
Der Engpass von Medikamenten ist ein globales Phänomen. Betroffen sind meist ältere Medikamente, deren Patentschutz längst abgelaufen ist. Aufgrund der Konkurrenz durch Generika sind deren Preise massiv unter Druck gekommen. Viele kleinere Hersteller haben sich daher zurückgezogen oder wurden übernommen. Dadurch hat sich die Produktion vieler Medikamente auf wenige Hersteller konzentriert. Diese wiederum sind manchmal auf einen einzigen Wirkstoffproduzenten angewiesen. Fällt dieser aus, kommt es zu einem weltweiten Engpass.
Für die Schweiz sei die Situation doppelt kompliziert, sagt Vaucher vom Apothekerverband. So sei das Land von seiner Grösse her nicht attraktiv, bei Engpässen kämen andere Staaten wie Deutschland, Frankreich oder Spanien zuerst zum Zug. Zudem müssten die Hersteller in der Schweiz zusätzliche Auflagen berücksichtigen, die etwa die eigene Zulassungsbehörde Swissmedic mit sich bringe.