«Lass niemals eine Krise ungenutzt verstreichen», erklärte Rahm Emanuel 2009 als Stabschef von Präsident Barack Obama. Nach diesem Motto handeln derzeit auch die bürgerlichen Kräfte in der Schweiz. Geht es nach «NZZ», SVP und FDP, dann muss die Gelegenheit beim Schopf gepackt werden. «Der Franken-Schock drängt die Linke in die Defensive», jubelt Simon Gemperli in der «NZZ». «Das eröffnet Chancen.»
Das sieht auch die SVP so. Sie geht neuerdings auf Schmusekurs zu FDP und CVP und hat zu einem bürgerlichen Schulterschluss aufgerufen. Die Zeit dazu scheint reif. Täglich verunsichern neue Meldungen über Jobverlagerungen ins Ausland die Arbeitnehmer. Ideale Voraussetzungen also, um vermeintliche Auswüchse des Sozialstaates und der staatlichen Bürokratie zurückzustutzen, längere Arbeitszeiten einzufordern, die verhasste Energiewende wieder rückgängig zu machen und – wie könnte es auch anders sein – tiefere Steuern für Unternehmen und Superreiche zu verlangen.
Ein erster «Revitalisierungs-Gipfel» der bürgerlichen Parteien hat stattgefunden, und Gemperli wittert bereits Morgenluft. Längere Öffnungszeiten für Einkaufszentren, Euro-Löhne, Flexibilisierung der Arbeitszeiterfassung und zusätzlich Arbeitsstunden – alles ist in den Bereich des Möglichen gerückt, denn auf Betriebsebene verhandeln Gewerkschaften und Arbeitnehmer derzeit «mit dem Rücken zur Wand». Also gilt es, Heu zu machen, solange die Sonne scheint. «Die Schwäche der Gewerkschaften dauert nicht ewig», warnt Gemperli.
Der Reformeifer der Rechten ist eine «Back to the future»-Strategie. Die Krise ist eine hervorragende Chance für einen längst fälligen Frühlingsputz des bürgerlichen Hauses. Wenn Gewerkschaften und Umweltschützer wieder zur Räson gebracht worden sind, wird alles im gewohnten Trott weitergehen. Was aber, wenn nicht?
Die Zeichen verdichten sich, dass wir am Vorabend einer grundsätzlichen Umwälzung der Wirtschaftsordnung stehen. Globalisierung und technischer Fortschritt sind im Begriff, unsere Wirtschaftsordnung umzukrempeln. «Dritte industrielle Revolution», «Internet der Dinge», «Sharing Economy» – diese Begriffe dominieren zunehmend die wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Diskussion. Nicht Gewerkschaften und Ökofreaks bedrohen die bestehende Wirtschaftsordnung, sondern Roboter und intelligente Software. Inzwischen weiss auch meine Katze, was unter einer «disruptiven Technologie» zu verstehen ist.
Die dritte industrielle Revolution verbreitet sich rasend schnell. «In bloss acht Jahren haben die Smartphones die Welt verändert – und sie haben noch kaum begonnen», stellt der «Economist» in seiner neuesten Ausgabe fest. Selbst wenn man einen guten Teil der Techno-Euphorie als Hype subtrahiert, bleibt unter dem Strich eine Menge. Allein in Europa würden rund die Hälfte aller Arbeitsplätze der dritten industriellen Revolution zum Opfer fallen, prophezeit beispielsweise der ETH-Professor Dirk Helbling.
Sollte es zutreffen – und die Anzeichen dafür mehren sich täglich –, dass wir auf eine neue, digitale Wirtschaftsordnung zusteuern, dann müssen wir uns auch ernsthaft Gedanken darüber machen, wie wir die Gesellschaftsform daran anpassen. Ein Frühlingsputz der bestehenden Ordnung wird nicht reichen. Was machen wir mit all den Menschen, deren Arbeit von Robotern und anderen intelligenten Maschinen verrichtet wird? Kehren wir zu Brot und Spielen, respektive zu Pizza und Playstation zurück?
Auf diese Fragen brauchen wir sinnvolle Antworten. Bürgerliche Schulterschlüsse und Revitalisierungs-Gipfel liefern altbekanntes Geschwätz und werden uns nicht weiterhelfen. Es geht in dieser Krise um sehr viel – und sie ungenutzt verstreichen zu lassen, wäre in der Tat fahrlässig.