Die Wirtschaft wächst stark, die Arbeitslosigkeit liegt bei nur zwei Prozent – aber es könnte sein, dass die Schweiz im Winter in eine Rezession rutscht. Teilen Sie die Befürchtung?
Tobias Straumann: Wir haben eine überhitzte Konjunktur und darum Vollbeschäftigung; in manchen Branchen können die Unternehmen Stellen nicht besetzen. Das geht auf das Ende der Pandemie zurück. Es gab einen extremen Einbruch 2020 - im vergangenen Jahr wuchs die Wirtschaft in der Schweiz aber um mehr als drei Prozent, was sehr viel ist. Die Erholung kam schneller und stärker, als erwartet worden war. Eine gewisse Abflachung wäre normal. Nun gibt es einen grossen Unsicherheitsfaktor.
Den Krieg in der Ukraine.
Dreht Putin Europa den Gashahn ab, ja oder nein? Wenn Deutschland kein Gas mehr aus Russland erhält, ist dort eine Rezession unvermeidbar. Das würde die Schweiz hart treffen. Und zwar nicht in erster Linie, weil auch wir kein Gas mehr bekämen. Ein wirtschaftlicher Absturz in Deutschland reisst die Schweiz mit. Das Staatssekretariat für Wirtschaft hat darum zwei völlig unterschiedliche Prognosen für das kommende Jahr präsentiert. Das ist ungewöhnlich.
Sie als Wirtschaftshistoriker können keine ähnliche Situation anführen?
In den siebziger Jahren führte die Ölkrise zu einer Rezession. Es gab die Befürchtung, dass die Staaten am Golf ihre Öllieferungen nicht nur in die USA und die Niederlande aussetzen könnten. Diese beiden Länder unterstützen Israel direkt im Jom-Kippur-Krieg. Die derzeitige Lage mit dem Krieg in Europa betrifft die Schweiz stärker.
Was kann man tun, um eine mögliche Rezession abzumildern?
Es braucht Massnahmen gegen die drohende Gasknappheit. Auch beim Strom könnte es Engpässe geben. In den Betrieben läuft viel. Der Staat hat keine Speicherkapazität für Gas, das hat er verschlafen.
Braucht die Schweiz einen Robert Habeck, der das Land aufrüttelt?
Das kann man so sagen. Die Situation erinnert mich an Corona: Die Strukturen sind staatlich und dezentral. Wir haben eine Energieministerin und einen Landesversorgungsminister, das erfordert Koordination. Dann haben wir die Kantone und die Gemeinden, welche die Elektrizitätswerke gemeinsam besitzen, aber sich zu wenig um die Versorgungssicherheit kümmern. Der Bund, die Energieversorger, die Kantone und die grossen Städte gehören an einen Tisch, und dann braucht es einen Plan, und zwar nicht nur kurzfristig. Es braucht enorme Investitionen.
Wofür?
Die kombinierten Öl- und Gaskraftwerke sind seit der Energiewende von 2017 vorgesehen, wurden aber nicht gebaut. Nun ist es höchste Zeit. Und dann sollte man die Atomkraftwerke länger laufen lassen und auch den Bau neuer Anlagen planen.
Wie bitte?
Dafür braucht es einen neuen Volksentscheid, das weiss ich. Es geht aber nicht anders. Wir brauchen viel mehr Strom. Mit den erneuerbaren Energiequellen allein schaffen wir das nicht. Man hat in der Geschichte nie auf einen zuverlässigen Energieträger verzichtet, ohne dass man wusste, wie man ihn ersetzt. Dass man das nun tun will, ist ein Fehler.
Die Inflation steigt. Müssen die Nationalbank und die Europäische Zentralbank die Zinsen erhöhen?
Ja. Es gibt Spielraum. Nominale Minuszinsen bei einer wachsenden Wirtschaft sind eine Anomalie. Wenn es zu einer Rezession kommt, hat man dann auch Spielraum für eine Zinssenkung.
Dass die Zentralbank lange untätig blieb, hat mit Südeuropa zu tun. Mit höheren Zinsen wird es für Italien schwieriger, seine Staatsschulden zu bedienen.
Nur wenn die Zinsen stark ansteigen. Italien und Griechenland haben heute viel längere Laufzeiten für ihre Staatsobligationen als in der Schuldenkrise nach 2008. Beide Länder sind nun besser aufgestellt als damals. Und die Inflation reduziert einen Teil der Schulden.
Warum ist die Inflation so stark gestiegen?
Es gibt mehrere Faktoren: Schon vor dem Krieg war das Angebot an Rohstoffen wie Öl knapp, weil die Wirtschaft nach der Pandemie sprunghaft zulegte, weltweit. In die Ölindustrie ist seit Jahren zu wenig investiert worden. Dann führte die Null-Covid-Strategie in China zu Lieferengpässen. Knappheiten erhöhen die Preise. Und vor allem die USA haben es mit ihrem finanzpolitischen Stimulus übertrieben. Nachträglich muss man sagen, dass die Staaten in der Coronazeit zu weit gegangen sind. In der Schweiz haben sich einige Unternehmen gesundgestossen an den Staatshilfen.
Dass die Zentralbanken die Finanzmärkte seit Jahren mit Geld fluten, ist kein Faktor?
Aus meiner Sicht nicht. Das billige Geld blieb im Finanzsystem. Die einzelnen Staaten haben den Aufschwung nach Covid zu stark angetrieben mit Geld für Unternehmen und Bürger.
Müssen die Löhne erhöht werden?
Auf jeden Fall. Man sollte das nicht prospektiv tun, also nicht in Erwartung der künftigen Inflation. Das heizt die Inflation zusätzlich an. Man sollte die Anpassung nur im Nachhinein vornehmen.
Sie wollen nun also zwischen zwei und drei Prozent mehr Lohn?
Ja klar. Ich habe einen Anspruch auf den Teuerungsausgleich. Das ist keine Lohnerhöhung.
Und wenn der Kantonalzürcher Finanzdirektor nicht mitmacht?
Er muss mitmachen. Wenn man damit anfängt, dass der Teuerungsausgleich ein Luxus ist, bekommt eine Gesellschaft Probleme.
Die Zuwanderung in die Schweiz ist hoch, zugleich klagen mehrere Branchen über einen Mangel an Fachkräften. Was läuft schief?
Auch hier ist der furiose Aufschwung nach der Covid-Krise entscheidend. In einem Jahr wird sich der Fachkräftemangel entschärft haben, davon bin ich überzeugt. Angebot und Nachfrage werden sich wieder einpendeln.
Kann die Schweiz eine Nettozuwanderung von 60000 Personen pro Jahr langfristig bewältigen?
Im europäischen Vergleich ist das viel. Ich kenne wenig Leute, die begeistert darüber sind. Das Land wird zugebaut. Früher war die Zuwanderung zyklisch: In guten Zeiten kamen viele, in schlechten wenige Menschen. Nun sind die Schwankungen gering. Die Zuwanderung schafft ihre eigene Nachfrage. Für die Konjunktur ist das zwar positiv. Aber es ist ein quantitatives Wachstum ohne grossen Produktivitätsfortschritt.
Ein Wachstum der Wirtschaft ohne hohe Zuwanderung – ist das in der Schweiz überhaupt noch möglich?
Ja. Dänemark zum Beispiel ist sehr erfolgreich, obwohl das Land viel weniger Einwanderung hat als die Schweiz. Unser Sonderfall hängt zweifellos mit der Sprache zusammen. Wir sprechen die Sprachen unserer Nachbarländer. Man sollte nur Leute aus dem Ausland holen, wenn es im Inland keine guten Bewerber gibt. Die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative ist vom Ansatz her richtig, aber man sollte konsequenter ans Werk gehen.
Man sagt, dass die Pandemie und der Ukraine-Krieg einen Rückschlag für die Globalisierung bedeuten. Produktionsketten sollen nach Europa zurückverlegt werden. Dadurch steigen aber die Preise der Produkte.
Russland ist nicht wichtig für die Globalisierung. Die Rohstoffe kann man ersetzen. Die russische Volkswirtschaft ist etwas grösser als die spanische. Es ist tragisch, dass Russland nichts zustande bringt. Darum greift der Präsident ein friedliches Nachbarland an. Würde Russland blühen, geschähe das nicht. Der wichtige Player aber ist China.
Sollen die europäischen Unternehmen Alternativen zu China suchen?
Die Tendenz geht Richtung Entkoppelung - aber die Verflechtung ist riesig. China ist für Investoren ideal, gut organisiert, mit einem grossen Markt vor Ort und einer wachsenden Mittelschicht. Die USA und Deutschland forcieren nun ihre eigene Produktion von Mikrochips. Aber in anderen Bereichen ist es nicht einfach, neue Produktionsstandorte zu finden. Ich fände es gut, wenn Afrika Investitionen anziehen würde. Aber das braucht Geduld. Länder wie Äthiopien streben auf und fallen wieder zurück.
Ein letzter Punkt: Die Schweiz hat ein Problem mit der EU. Wie belastend ist es für die Wirtschaft, wenn die Bilateralen Verträge nicht aktualisiert werden?
Bis jetzt ist es kein Problem. Die Wirtschaft läuft hervorragend.
Aber der Ausschluss von den Horizon-Forschungsprogrammen muss Sie als Universitätsprofessor schmerzen.
Ich bin sehr entspannt.
Entspannt sind Sie?
Wir sind bei fast allen Programmen nach wie vor dabei, wir können nur nicht mehr die Leitung übernehmen. Das hat Nachteile, ist aber nicht dramatisch. Die Schweizer Universitätsinstitute bekommen nach wie vor Geld.
Sie werden sich keine Freunde machen unter Ihren akademischen Kollegen.
Ich habe volles Verständnis für ihren Ärger. Aber wir sollten nicht ständig jammern, wir sollten Ersatzprogramme entwickeln, auch internationale, mit der die Schweiz ihre Stärken als offener und gut dotierter Forschungsstandort ausspielen kann. Das Austauschprogramm Erasmus funktioniert genau so gut wie früher, seit die Schweiz die Organisation und Finanzierung eigenständig übernommen hat.
Führen die neuen Anstrengungen für ein Abkommen mit der EU zum Erfolg?
Ich denke nicht. Die EU will von der Schweiz die dynamische
Rechtsübernahme, die Schweiz lehnt diese ab. Wie will man sich da finden? Ich sehe keine Lösung. Vielleicht ändert sich die Stimmung in der Schweiz, wenn die Wirtschaft nicht gut läuft und die EU die Schraube anzieht. Bis jetzt ist das nicht wirklich geschehen – die EU ist trotz aller Reibereien ein wohlwollender Nachbar. Wir sollten die Zeit für Reformen im Inland nutzen. Die letzte grosse Reform, die Einführung der Schuldenbremse, geht auf das Jahr 2001 zurück. Es ist nötig, die Sozialwerke auf ein besseres Fundament zu stellen und unsere Volksschulen wieder besser zu machen. (aargauerzeitung.ch)
Es müsste endlich eine Steuer-Erhöhung der oberen Einkommen und eine Reduktion der mittleren und unteren Einkommen erfolgen.
Die KK sollte Einkommensabhängig belastet werden.