Noch 15 Minuten, dann wird das steil in den Nachthimmel aufragende Schiff zwischen dem dritten und vierten Schornstein auseinanderbrechen. Die Stromleitungen werden zerreissen und die Titanic im Dunkeln liegen, bevor sie gänzlich in den eisigen Wogen des Atlantiks verschwunden sein wird.
Mr. Hoffman reicht seine beiden Söhne durch die Absperrkette, sie werden ins Faltboot D gesetzt. Es ist das letzte Rettungsboot. Und jetzt ist es voll. Dem fast vierjährigen Lolo ruft er noch zu: «Mein Kind, sag deiner Mutter, dass ich sie von ganzem Herzen geliebt habe und es noch immer tue.»
Mr. Hoffman starb in jener Nacht gemeinsam mit 1500 anderen Menschen. Nur war Hoffman gar nicht sein richtiger Name. In Wirklichkeit hiess er Michel Navratil. Und er hatte versucht, seine Söhne Lolo und Monmon nach New York zu entführen.
Michel stammte aus der Slowakei und wohnte mit seiner Frau, der Argentinierin Marcelle, und den zwei gemeinsamen Kindern in Nizza.
Doch beide Eheleute waren angefüllt mit so vielen wilden Gefühlen, die für den jeweils anderen so unverständlich waren, dass sie unerwidert zwischen ihnen hin- und herschossen, bis sie zuletzt völlig erschöpft zu Boden sanken.
Irgendwann sammelte Marcelle ihre ganzen Gefühle auf und schenkte sie Michels bestem Freund, dem wesentlich älteren Grafen Rey de Villarey. Für diesen trennte sie sich von ihrem Gatten und nahm die Kinder mit. Und Michel konnte seine Söhne fortan nur noch sonntags sehen.
Das ertrug sein Herz nicht. Er lieh sich den Reisepass seines Freundes Louis M. Hoffman und buchte unter dessen Namen ein Ticket zweiter Klasse für eine Fahrt über den Atlantik. 26 Dollar kostete ihn die Reise nach Amerika, wo er mit seinen Söhnen ein neues Leben aufzubauen gedachte.
Marcelle wollte er nie mehr wiedersehen – so stand es im Brief, den man nach seinem Tod in seinem grauen Mantel fand. In der anderen Tasche befand sich seine Pfeife und ein geladener Revolver. Die eisigen Wasser waren ihm zuvorgekommen.
Diese waren inzwischen auch ins Rettungsboot gedrungen, Lolos Füsse waren schon ganz kalt. Er sass neben einer Bankierstochter aus Amerika. Auf ihrem Schoss zitterte ein Hündchen. Der Junge schaute hinaus auf den schwarzen Ozean, auf dem mächtige Eisbrocken schwammen. Dann schlief er ein.
Dann, um halb fünf Uhr morgens, tauchte die Carpathia auf. In einem Kartoffelsack zog man Lolo und seinen Bruder an Bord des Schiffs. Die Buben wussten ihren Nachnamen nicht, man kannte sie nur als die Söhne des Mr. Hoffman. Und nun waren sie zu den Waisenkindern der Titanic geworden.
Auf dem Foto, das jetzt um die Welt ging, sassen die beiden in einem riesigen Ohrensessel, Lolo mit einem Spielzeugdampfer auf dem Schoss.
Eine wohlhabende Passagierin nahm die Kinder derweil in ihrer New Yorker Wohnung auf. Innerhalb nur eines Tages waren bei der netten alten Dame mehr als 30 Adoptionsanfragen eingegangen.
Ein Brief, so erzählt man sich, stammte von Florette Guggenheim, der Witwe des reichen Geschäftsmannes Benjamin Guggenheim. Und Mr. Frank Lefebvre reiste von Iowa bis nach New York in der irrigen Annahme, es handle sich bei Lolo und Monmon um seine Söhne. Die Titanic hatte seine Frau Marie und alle seine vier Kinder in den Tod gerissen.
Marcelle blättert durch die französische Zeitung «Le Figaro», als sie plötzlich das Bild mit ihren Kindern sieht. Über einen Monat lang hatte sie nichts von ihnen gehört. Sie waren über das Osterwochenende bei ihrem Vater gewesen, doch als sie die Buben abholen wollte, war niemand da.
Das Schiff der Witwen, wie die Oceanic genannt wurde, bringt sie von Frankreich nach New York. Es ist der 16. Mai 1912. Der Tag, an dem sie Lolo und Monmon so fest an ihre Brust drückte, dass sie fast keine Luft mehr bekamen.