Im Juni 2012 stiessen zwei englische Alpinisten auf dem Grossen Aletschgletscher auf Kleidungsstücke, Ausrüstungsgegenstände und menschliche Knochen. Bald wurde klar, dass sie die sterblichen Überreste von drei Brüdern gefunden hatten, die 86 Jahre zuvor zusammen mit einem Kollegen auf dem Gletscher verschollen waren.
Die vier jungen Männer waren am 4. März 1926 von der Hollandiahütte am Grossen Aletschfirn zu einer Skitour aufgebrochen. Ihr Ziel war der Konkordiaplatz, wo drei Firnströme zum längsten Gletscher der Alpen zusammenfliessen. Es war das letzte Mal, dass sie lebend gesehen wurden.
Jetzt haben Guillaume Jouvet von der Freien Universität Berlin und Martin Funk von der ETH Zürich mit Modellrechnungen den Ort errechnet, an dem die Männer zu Tode gekommen sein müssen.
Ihr Modell berücksichtigt die Fliesseigenschaften des Gletschers, also Geschwindigkeit, Wachstum und Schwund. Damit grenzten sie ein Gebiet von 1600 mal 3000 Metern ein, in dem die Alpinisten verschwunden sein müssen.
Das Gebiet liegt im Tal nördlich der Hollandiahütte. Die Wissenschaftler schliessen daraus, dass die Männer die Orientierung verloren hatten – am Nachmittag des 4. März 1926 war ein Schneesturm hereingebrochen, der über Tage hinweg anhielt. Sie sind vermutlich erfroren, berichten die Forscher im «Journal of Glaciology».
Gemäss dem Modell haben die Körper mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 122 Metern pro Jahr insgesamt rund 10,5 Kilometer im Eis zurückgelegt. 1980 waren sie etwa 250 Meter tief im Gletscher vergraben bei einem Druck von 20 Bar, dem Zwanzigfachen des Luftdrucks. Darauf wiesen die deformierten Knochen hin, schreiben die Forscher.
Nach 1980 erreichten die Leichen den Konkordiaplatz. Die Bewegungskurve biegt danach nach rechts ab, und das Geschwindigkeitsdiagramm verdeutlicht, dass die Transportgeschwindigkeit auf bis zu 200 Meter pro Jahr anstieg.
Die Simulation der wandernden Leichen hilft den Forschern nach eigenen Angaben dabei, ihr Modell zu überprüfen. Dieses soll dazu dienen, die zukünftige Entwicklung des Aletschgletschers in einem sich verändernden Klima zu simulieren.
Dass die Vermissten trotz wochenlanger Suche nicht gefunden wurden, könnte daran liegen, dass tagelanger starker Schneefall die Opfer bedeckte, glauben die Forscher. Laut Messungen soll der Schnee, der nach dem 4. März 1926 gefallen ist, bis zum nächsten Winter nicht getaut sein.
Hätten die englischen Alpinisten die Leichen gerade dann gefunden, als der Gletscher sie wieder freigab, wären sie wie die Gletscherleiche des Ötzi mumifiziert gewesen. Da sie aber bereits eine Weile an der Oberfläche gelegen hatten, waren nur noch die Knochen übrig. Vom vierten Mann, der 1926 verschwunden ist, fehlt übrigens nach wie vor jede Spur. (dhr/sda)