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Nicht alle wollen Windpocken hinnehmen

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Kontroverse

Nicht alle wollen Windpocken hinnehmen

Kinder sollen Windpocken durchmachen, heisst es in der Schweiz – Eltern aus Deutschland sehen das anders.
13.06.2014, 05:5113.06.2014, 09:29
Karen Schärer / Aargauer Zeitung
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Aargauer Zeitung

Eltern kennen die Situation nur zu gut: Gäste melden sich kurz vor der Einladung und berichten, ihr Kind habe die Windpocken. Zwar muss das Kind nicht das Bett hüten – doch ein Kontakt mit einem anderen Kind, das noch nicht an Windpocken erkrankt ist, führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu dessen Ansteckung. Hat das eigene Kind die Erkrankung schon durchgemacht, steht einem Besuch nichts im Weg. Ebenso wenig, wenn die Eltern nichts dagegen haben, wenn ihr Kind in den kommenden Wochen die Krankheit bekommt – so kann sich die ganze Familie immerhin auf die Zeit einstellen, in der das Kind nicht in Kindergarten, Schule oder Kita gehen kann. 

Vermehrt hören Eltern aber auch: «Kein Problem, unsere Kinder sind geimpft.» Gelten die Spitzen Blattern hierzulande als Kinderkrankheit, die man einfach hinnehmen muss, ist die Haltung in Deutschland, Österreich wie auch in den USA eine andere: In den USA ist eine Windpockenimpfung ab dem ersten Lebensjahr schon seit 20 Jahren empfohlen, in Deutschland seit zehn Jahren, Österreich folgte 2010. Viele Eltern aus den genannten Ländern, die in der Schweiz wohnen, lassen ihre Kinder deshalb impfen. 

In der Schweiz hingegen empfiehlt der offizielle Impfplan eine Impfung gegen Windpocken im Alter zwischen 11 und 15 Jahren – sofern die Krankheit noch nicht durchgemacht wurde. Dies ist bei etwa vier Prozent der Personen in dieser Altersgruppe der Fall. Auf Anfrage schreibt das Bundesamt für Gesundheit: «Die Impfung von Kindern ab einem Jahr empfiehlt sich, wenn beim Auftreten von Windpocken ein erhöhtes Komplikationsrisiko bestehen würde, zum Beispiel, weil diese Kinder an einer schweren Krankheit leiden (schwere Ekzeme, Leukämie oder Tumore).» In fetten Buchstaben streicht das Bundesamt hervor: «Eine Windpockenimpfung ist bei allen anderen jungen, gesunden Kindern nicht angezeigt.» 

Bewertung diametral anders 

Wie aber kann es sein, dass die Behörden in Nachbarländern zu komplett entgegengesetzten Einschätzungen einer Krankheit kommen? Besten Einblick hat Ulrich Heininger, leitender Arzt am Universitäts-Kinderspital Basel. Heininger ist sowohl vom Bundesrat gewähltes Mitglied der eidgenössischen Impfkommission, welche die Impfempfehlungen für die Schweiz erarbeitet, als auch Mitglied der entsprechenden Kommission in Deutschland. 

Das habe mit Gegebenheiten des jeweiligen Landes zu tun, sagt der Impf-Spezialist, der intensiv zu Varizellen, wie die Windpocken auch heissen, geforscht hat. «Die Wahrnehmung und Bewertung, ob das eine Krankheit ist, die man durch eine Impfung verhindern sollte, ist sowohl in der Bevölkerung als auch in der Ärzteschaft unterschiedlich», sagt Heininger. Gilt die Krankheit in der Schweiz als typische Kinderkrankheit, die jeder Mensch mal hat, liegt der Fokus in Deutschland stärker auf dem Komplikationspotenzial. In der Schweiz gibt es pro Jahr ein bis zwei Todesfälle aufgrund einer Windpockenerkrankung. Eines von 1000 Kindern erleidet Komplikationen und muss ins Spital. 

Meldepflicht in Deutschland

In Deutschland gilt seit zwei Jahren gar eine Meldepflicht für Windpockenerkrankungen; das heisst, Ärzte müssen Meldung über aufgetretene Erkrankungen an das zuständige Amt erstatten. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin begrüsste offiziell den Beschluss des Deutschen Bundestags und schrieb in einer Mitteilung, die Meldepflicht trage dem Umstand Rechnung, dass Kinderkrankheiten wie die Windpocken keineswegs harmlos, sondern ernstzunehmende Infektionskrankheiten seien. 

Als «überzogene Massnahme« bezeichnete die Meldepflicht hingegen ein Kinderarzt, der unter dem Pseudonym «Kinderdok» im Blog «Kids and me 2.0» Geschichten aus dem Praxisalltag verbreitet. In einem Eintrag zur Meldepflicht schrieb er: «Vielleicht soll das Etikett der Aufnahme ins Infektionsschutzgesetz auch eine zusätzliche Gefahr suggerieren, sind nicht alle meldepflichtige Erkrankungen gleichbedeutend mit Aussatz, Mittelalter und Pestilenz? (...) Das erhebt die Windpocken in den Status einer wirklich, wirklich, wirklich gefährlichen Erkrankung.» 

Offenbar ist die Botschaft, Windpocken seien «keine harmlose Kinderkrankheit» bei der deutschen Bevölkerung rasch durchgedrungen: In Deutschland sei die Impfempfehlung innerhalb von kürzester Zeit zum Erfolg geworden, sagt Ulrich Heininger. «Die sehr hohe Durchimpfungsrate ist den Müttern zu verdanken.» Viele hätten die Impfung auch von sich aus eingefordert, nachdem ein älteres Geschwister die Krankheit schon durchgemacht hatte. Aspekte der Familienorganisation stehen laut Heininger eher nicht im Vordergrund, wenn es um den Impfentscheid geht. «Doch es stimmt, Eltern können auch rational abwägen und der Gedanke, dass eine Abwesenheit vom Arbeitsplatz durch eine Impfung verhindert werden kann, spielt vielleicht bei manchen eine Rolle.» 

Jetzt auf

Impfmöglichkeit wenig bekannt 

Während ausländische Eltern in der Schweiz ihren Kinderarzt um die Windpocken-Impfung bitten, haben erst wenige Schweizer Eltern überhaupt davon Kenntnis, dass es einen Impfstoff gegen Windpocken gibt. «Ich würde es begrüssen, wenn eine Impfempfehlung ab Kleinkindalter auch in der Schweiz zum Thema würde», sagt Heininger. Angesichts der Komplikationsrate und der möglichen Spätfolgen der Krankheit (Gürtelrose) stuft der Arzt Windpocken als «verhinderungswerte Krankheit» ein. 

Beim Bundesamt für Gesundheit will man von einer Anpassung der Impfempfehlungen nichts wissen: Dies stehe «aus heutiger Sicht nicht zur Diskussion». Heininger sagt, auch in der Eidgenössischen Impfkommission habe eine Diskussion über eine allgemeine Windpockenimpfung derzeit keine Priorität. «Daraus schliesse ich indirekt, dass ich mit meiner persönlichen Ansicht relativ alleine dastehe.» Das kann sich aber ändern: Vor Einführung der Impfempfehlung in Deutschland galten die Windpocken auch dort als Kinderkrankheit, die jeder mal hat. Heute will sie die grosse Mehrheit der Eltern in unserem Nachbarland nicht mehr hinnehmen. 

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