An dem unscheinbaren Fabrikgebäude aus rotem Backstein in Montreuil hängt nicht einmal ein Firmenschild. Das Innere ist vollgestopft mit alten Tonspur- und neuen Aufnahmegeräten, mit Bildschirmen, Schallwänden und Lautsprechern. Im Studio C legt Tonmeister Emiliano Flores vorsichtig die Nadel auf eine 75 Jahre alte Lackplatte. Knistern, Rauschen. Ein Zeitsprung. Eine Stimme krächzt, der Reichsmarschall sei ehrlich empört gewesen über die Erschiessungen. NS-Aussenminister Joachim von Ribbentrop will mit der lächerlichen Behauptung glauben machen, der Mitangeklagte Hermann Göring habe nichts zu tun mit dem Tod der gefangenen britischen Luftwaffenoffiziere, die aus dem Stalag 3 fliehen wollten.
Emiliano Flores hebt die Nadel von der schwarz glänzenden Scheibe. Dann spielt der französische Tonmeister die gleiche Sequenz nochmals ab, diesmal auf dem Computer. Die Knackgeräusche sind verschwunden, die spitzen Hochtöne geglättet. Die ganze Tonkulisse hört sich runder an, angenehmer.
In den Ohren tut es nicht mehr weg – nur noch im Herz«Das ist nicht ganz belanglos, wenn Sie tausend Stunden Prozess hören müssen», sagt Flores. Er weiss, wovon er spricht. Der Toningenieur des Pariser Kleinunternehmens Gecko hat die 986 Stunden Dauer des Hauptprozesses der Nürnberger Serie von Anfang bis Ende abgehört, Minute für Minute. Das war nötig, um die Tonspuren – unter anderem von Sandkörnern – zu reinigen. Dann wurden sie digitalisiert, schliesslich restauriert.
Anderthalb Jahre brauchte er für zehn Monate Prozessdauer. Das spezialisierte Tonunternehmen hatte den Auftrag vom Internationalen Gerichtshof der UNO in Den Haag erhalten. Diese Institution – nicht mit dem Internationalen Strafgericht zu verwechseln – hatte die Tonaufnahmen des Nürnberger Prozesses jahrzehntelang archiviert.
2016 erhielt das französische Unternehmen Gecko den Zuschlag für die Digitalisierung, die vom Holocaust-Memorial und –Museum in Washington (USHMM) und dem Mémorial der Shoah in Paris finanziert worden ist. Damit begann die Ameisenarbeit für den 20-Mann-Betrieb. «Angesichts der historischen Bedeutung war höchste Sorgfalt geboten», meint Flores. «Wir hörten die ganze Aufnahme durch, wie wir es immer tun. Das hat neben der eigentlichen Digitalisierung den Vorteil, dass wir den ganzen Inhalt beglaubigen können. Das hilft, in Zukunft Manipulationen und ’gefakte’ Versionen zu verhindern.»
Was ebenfalls half: Flores spricht Englisch, Französisch und Deutsch. Nur die vierte Prozesssprache, Russisch, beherrscht er nicht. Abgesehen davon hörte er die ganzen Gerichtsverhandlungen mit – vielleicht als erster Mensch überhaupt. Detailliert führt er aus, wie fehlerhaft und lückenanfällig die bisherigen Dokumente über den Nürnberger Hauptprozess (November 1945 bis Oktober 1946) waren. Die Filmaufnahmen decken nur einen kleinen Teil des Verfahrens ab. Tonspuren der BBC sind womöglich unvollständig, jedenfalls nicht öffentlich zugänglich.
Und das Schriftprotokoll war nicht immer «verbatim», also wortwörtlich, wie Flores festgestellt hat: «Die Mehrfach- und Simultanübersetzung war ein Novum. Die Dolmetscher leisteten eine gewaltige Arbeit, aber sie waren nicht alle Profis und bald einmal erschöpft.» Das übertrug sich auf die Arbeit der Stenografisten, die sich für ihre Notizen überdies teils mit Liveübersetzungen behelfen mussten. Häufig fassten sie Aussagen zusammen, statt sie wörtlich zu notieren.
Bei Stichproben fiel Flores auf, dass einzelne Passagen im Protokoll verkürzt wurden oder ganz fehlten, wenn man mit dem Tondokument vergleicht. Mit Rücksicht auf die Anstandsnormen jener Zeit fielen Flüche, Bordellbesuche oder Folterungen meist durch. Der Herausgeber des Hetzblattes «Der Stürmer», Julius Streicher, beklagte sich vor Gericht, er sei in amerikanischer Haft malträtiert worden und habe «die Füsse von Negern küssen» müssen. In der Niederschrift des Prozesses fehlt der Passus. Das wird zwar in einer Fussnote eingestanden; Neonazis basteln aber daraus leicht eine Komplotttheorie gegen die angebliche «Siegerjustiz».
Im Gerichtssaal standen vier PlattenspielerIm digitalisierten Tonprotokoll ist der Streicherpassus nun enthalten. Es enthält alles, was am Prozess akustisch registrierbar war. Das ist auch den damaligen Toningenieuren zu verdanken. Ein Schwarzweissfoto an der Wand des Tonstudios Gecko zeigt, dass sie im Gerichtsgebäude von Nürnberg gleich vier Plattenspieler gleichzeitig unterhielten. Sie setzten die Plattenspieler paarweise ein, sodass während des Wechsels der Lackscheiben jede Viertelstunde keine Lücken entstanden. Um weitere Aussetzer zu vermeiden, nahmen sie den Prozess zudem doppelt auf. Kurz, das Tonprotokoll ist einiges genauer als das Schriftprotokoll. Das ist wichtig für Historiker und Juristen, die den «Prozess der Prozesse» aufarbeiten wollen.
Gecko hat die vier Terabytes diese Woche dem Uno-Gerichtshof in Den Haag in aller Diskretion ausgehändigt. Die Hunderten von Schallplatten, derzeit in massgefertigten Kühlkisten gelagert, werden ebenfalls in die Niederlande zurückgebracht. Das Uno-Gericht äussert sich vorerst nicht zur Frage, wann die Tonversion allgemein zugänglich wird.
Der Tontechniker musste sich die Gräueltaten anhörenFür Emiliano Flores, geht eine lange Zeit intensivster Beschäftigung mit dem Thema zu Ende. Hart war die Soloarbeit zu Beginn. «Ich muss sagen, wenn man per Kopfhörer die genauen Schilderungen eines norwegischen Gestapo-Opfers hört, dass immer wieder bis zur Bewusstlosigkeit gefoltert wurde, oder wenn die Erschiessung polnischer Kinder am Rande von Massengräbern geschildert wird – dann würde man schon gern mit jemandem darüber sprechen.»
Es war eine mühselige Arbeit, aber eine «für die Ewigkeit», sagt Flores. «Unsere Version wird womöglich über Jahrhunderte als Grundlage dienen.» Auch wenn digitale Versionen viele Vorteile aufweisen: Sind sie anfällig für Manipulationen und die Herstellung von Fake News. «Wir liefern eine gesicherte Grundlage. Sie ist bis in jeden gesprochenen Satz authentifiziert und dank dem Prüfsummenverfahren fälschungssicher», sagt Flores. «Doch was damit gemacht wird, können wir nicht mehr kontrollieren. Deep fake ist heute überall denkbar.»