Wie haben die Menschen hierzulande vor tausend Jahren ausgesehen? Eine einmalige Gelegenheit bietet sich. Wir haben das Gesicht einer Frau aus dem 11. Jahrhundert vor uns, naturgetreu, lebensecht. Eine Sensation. Aber selbst angesichts spektakulärer Funde ist und bleibt Geschichte ein nüchternes Geschäft. Das bedeutet: Fragen, Fragen, Fragen.
1892 wird die Kirche des ehemaligen Klosters St. Fides in Schlettstadt restauriert. Die Krypta kommt wieder zum Vorschein, und in einem gemauerten Grab werden die Überreste einer Frau gefunden. Nach ihrem Tod im Jahre 1094 war sie mit einer dicken Kalkschicht überzogen worden. Womöglich hatte die Verstorbene eine ansteckende Krankheit, vor der sich die Nachwelt schützen wollte.
Jedenfalls war der Kalk zu einer festen Hülle erstarrt, und darin hatten sich ihre Gesichtszüge abgebildet. Von der so entstandenen und erhaltenen Hohlform liessen sich Abgüsse herstellen. Eine dieser Totenmasken ist heute am Fundort ausgestellt, in der Krypta der Klosterkirche im elsässischen Schlettstadt. Weitere Abgüsse werden in mehreren Museen der Region gezeigt.
Ausser Frage steht, dass es sich bei der Verstorbenen um eine damals bedeutende Person gehandelt haben muss. Das bezeugt nicht allein die Tatsache, dass die Frau in der ältesten Grablege der Staufer im Elsass bestattet wurde, sondern dass ihr Grab erst noch einen bevorzugten Standort erhielt, vorn im Chor der Kirche, nah beim Altar. Vermutlich handelt es sich um Hildegard von Egisheim (um 1028–1094), die Urgrossmutter von Kaiser Friedrich Barbarossa (1122–1190) und damit um die Stammmutter des bedeutenden Herrschergeschlechts der Staufer.
Friedrich II. (1194–1250), der letzte staufische Kaiser, galt bei seinen Anhängern als «grösster Fürst der Erde» und als das «Staunen der Welt» (stupor mundi). Am Anfang dieses Staunens stand Hildegard. Weil sie beim Tod gegen 70 Jahre alt war, diese Totenmaske aber eher zu einer Frau von rund 40 Jahren passt, könnte es sich auch um ihre Tochter Adelheid handeln. So oder so das einzige lebensecht erhaltene Porträt eines mit Namen bekannten Menschen aus dem Hochmittelalter.
Alles klar? Alles unklar. Weder ihr Geburtsjahr noch ihr Todesjahr lässt sich mit Sicherheit datieren. Immerhin lassen sich Zeiträume abgrenzen (1024–1035 bis 1094–1095). Vor allem aber: Was kennen wir von Hildegard von Egisheim mehr als ihr Gesicht? Kein Schmuck, keine Grabbeigaben, keine Statussymbole, nichts. Bloss der Haaransatz und Spuren eines offenbar schlichten Kleides aus einem groben Gewebe sind erkennbar. Die Aufgaben und Bedeutung dieser Frau in Familie und Gesellschaft erschliessen sich nur indirekt und vage. Auch über ihr Denken und ihre Religiosität erfahren wir nichts. Als Individuum wird sie nicht fassbar.
Als historische Quelle sind dieses Grab und diese Totenmaske so unergiebig, weil die Verstorbene keinen Einfluss darauf hatte, wie ihr Bild der Nachwelt überliefert werden sollte. Ihr naturgetreues Abbild entstand unbeabsichtigt, ist nicht das Werk eines Bildhauers, liefert keine Anhaltspunkte. Genau diese fehlende Absicht kann man zwar als besonders wertvoll erachten, denn idealisierte Herrscherbilder gibt es genug, auch bereits aus damaliger Zeit. Wenigstens einmal hat man im Falle Hildegards von Egisheim das Unverstellte, Ursprüngliche, Originale vor sich. Dennoch: Die lebensechte Bildquelle dieser Frau bleibt seltsam sprachlos. Verkehrte Welt: so nah dran – und so weit weg.
Die Gegend bleibt dieselbe: Oberrhein. Die Zeit ist vorgerückt, gut dreihundert Jahre. Wieder ist eine Frau im Zentrum. Sozial steht sie aber, im Gegensatz zu den Noblen des staufischen Herrschergeschlechts, am unteren Ende der Skala: bei den Verspotteten.
Hat man je so etwas gesehen! Eine Frau, begleitet von ihrem Mann, ist unterwegs auf einem Esel und verrichtet auf ihrem Ritt mehr Dinge gleichzeitig, als man sich vorstellen kann. Auf den Knien führt sie in einer Wiege ihr Kind mit (Detailansicht in der Bildstrecke unten), auf dem Kopf einen Korb, prall gefüllt mit Hühnern. Mit der linken Hand hält sie eine Katze auf dem Hinterteil des Esels fest und spinnt dank Rocken und Spindel gleichzeitig mit der rechten Hand einen Faden.
lm Tragtuch, das als Rucksack dient, schleppt sie eine ganze Kücheneinrichtung mit. Dazu gehören Aschenrost, Breipfanne, Schöpflöffel und selbst ein Blasebalg zum Anfachen des Herdfeuers. All diesen Hausrat hat sie förmlich am Hals. Das hindert sie aber nicht, auch noch Geflügel und Kleintiere zu überwachen.
«Ich heisz metz vnmusz», verkündet die Frau in der Überschrift der Darstellung. Wie gern wüsste man, was ihr der unbekannte Holzschneider im zweiten Teil noch in den Mund gelegt hat. «sorgen wirt mir nywe pin», hat ein Spezialist gelesen, was etwa heissen könnte: «Sorgen werden mir zu neuer Pein». Diese Lesart wird von einigen Fachleuten geteilt, von andern abgelehnt. Die Schrift auf dem Holzschnitt ist und bleibt zu verderbt, als dass sie sich eindeutig entziffern liesse.
Wenden wir uns wieder der «Metz Unmusz» zu. Die Frau hat weder Rast noch Ruh, ist un=ohne Muss(e). Deshalb wird sie verspottet und der Verachtung preisgegeben. Einer ganzen Schar von Figuren ergeht es am Oberrhein um 1500 auf Darstellungen und in Texten ähnlich. Die volkstümlichen Verwandten der Metz Unmusz heissen «Frau Seltenfried» oder «Heinz Widerporst».
Zu ihnen gesellt sich «Hans-Dampf-in-allen-Gassen», dem in Österreich der «G‘schaftelhuber» entspricht, in England der «Busybody». Der Volkshumor macht sich lustig über Leute, die nichts tun, aber in grösster Eile, ihrer Umgebung mit dauernder Geschäftigkeit und zwecklosem Übereifer lästig werden. Das ist die eine Lesart, die verbindliche, fachlich korrekte.
Die unverbindliche, unkorrekte, sentimentale Lesart der Darstellung der Metz Unmusz sagt etwas anderes. Der Holzschnitt von unbekannter Hand liesse sich nämlich auch lesen als Anerkennung für all das, was diese Frau gleichzeitig leistet, während ihr Mann mit einem Schwert an der Seite lediglich für ihren Schutz zu sorgen hat, für alle Fälle. Höchst eindrücklich, was diese Frau vollbringt. Eine Ehrenmeldung wäre angebracht. Der Kunsthistoriker Otto Kurz warnt allerdings, mit dieser Lesart werde dem Holzschnitt «eine moderne Sentimentalität unterschoben, die dem fünfzehnten Jahrhundert (und auch einer späteren Zeit) völlig fremd war».
Das sei nicht bestritten. Grundsätzlich wird an der Verspottung der Frau auf dieser Darstellung nicht gezweifelt. Fakt ist: Wir haben eine Bildquelle aus dem 15. Jahrhundert vor uns, betrachten sie aber aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts. Es wäre ein Schnitzer der Extraklasse, mit einer Lesart von heute unbedarft ein Bild von damals zu deuten. Genau das ist ja die ureigene Herausforderung der Historikerinnen und Historiker, die Vergangenheit aus ihrer jeweiligen Zeit heraus zu verstehen.
Allerdings müssen wohl auch Spezialisten, die jeder Sentimentalität abhold sind, einräumen, dass sich der anonyme Holzschneider im vorliegenden Falle einer Ironie sozusagen auf höchstem Niveau bediente. Ist die Körperhaltung der Metz Unmusz nicht ausgesprochen elegant, trägt sie den Korb mit den Hühnern nicht wie eine Krone, sind ihre Hände nicht zart wie die einer Edelfrau? Wird diese Vornehmheit nicht noch gesteigert durch eine wirkungsvolle Mittelsenkrechte und eine ebenso zarte wie zurückhaltende Farbgebung?
Und erst noch, wie wunderbar das Kind voller Vertrauen zu seiner Mutter aufblickt, mit dicken braunen Schnüren in seiner Wiege sorgfältig gesichert. Ist das alles Spott und Hohn? Oder lässt diese Szene gar an die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten denken?
Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Fragt sich allerdings welche. Das Spannungsfeld von eindeutig und mehrdeutig. Offen lassen ohne ins Unverbindliche abzugleiten. Die Richtung halten.