«Vielleicht wird man sagen dürfen: ‹Gott hat es gut gemeint mit Österreich, dass er ihm diesen Kaiser erspart hat› – einen von den Folgen der Lues [Syphilis, A. d. V.] und von Tuberkulose schwer angekränkelten Mann, dem einer, der ihn gut kannte, die Fühllosigkeit und Grausamkeit eines asiatischen Despoten nachgesagt hat.»
Mit diesen vernichtenden Worten kommentierte der österreichische Reichsratsabgeordnete Josef Redlich die Nachricht von der Ermordung Franz Ferdinands in Sarajevo am 28. Juni 1914. Die Schüsse, die den österreichischen Thronfolger und seine Gattin tödlich trafen, lösten den Ersten Weltkrieg aus – jene oft zitierte «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts».
Wer war der Mann, dessen Tod solch weitreichende Folgen hatte? War Franz Ferdinand der grausame «asiatische Despot», der Österreich erspart blieb, wie Redlich glaubte? Oder war er im Gegenteil die letzte Hoffnung des Hauses Habsburg, dessen maroder Vielvölkerstaat sich nach dem Attentat von Sarajevo dann in einen Krieg stürzte, in dem er untergehen sollte?
Sicher ist: Franz Ferdinand von Österreich-Este, 1863 als Sohn Karl Ludwigs von Österreich und Prinzessin Maria Annunziatas von Neapel-Sizilien in Graz geboren, war vor allem ein widersprüchlicher und schwieriger Mensch. Er galt als herrisch und aufbrausend; wegen seiner schroffen Art mochten ihn nur wenige; sein Jugendfreund Prinz Gottfried zu Hohenlohe attestierte ihm sogar einen «niederträchtigen» Charakter. Sein Tod habe in Österreich «keine sonderliche Erschütterung oder Erbitterung» ausgelöst, berichtete Stefan Zweig.
Die Franz-Ferdinand-Biographin Alma Hannig weist darauf hin, dass der Erzherzog sich oft über den deutschen Kaiser Wilhelm II. wunderte, mit dem er befreundet war. Wilhelm habe stets grossen Wert auf seine Beliebtheit gelegt, während dies Franz Ferdinand völlig unwichtig gewesen sei. Respekt war ihm wichtiger.
Seine Sammelleidenschaft war legendär; er lebte sie auf zwei Gebieten aus: der Jagd und der Kunst. Als hervorragender Schütze verbrachte er viel freie Zeit auf der Jagd. Der schiesswütige Erzherzog knallte dabei eine solch ungeheure Anzahl von Tieren ab – es sollen insgesamt über 270'000 gewesen sein –, dass man von manischem Töten sprechen muss. An einem einzigen Tag erlegte er einmal 3000 Möwen.
Als fanatischer Kunstsammler war Franz Ferdinand gefürchtet. Er liebte Antiquitäten und kaufte wie besessen ein, auch Minderwertiges. So häufte er eine Kunstsammlung an, die «von entsetzlicher Geschmacklosigkeit» zeugte, verbat sich jedoch schroff jeden Widerspruch. Zeitgenössische, moderne Kunst missfiel ihm; sein Kunstverständnis war reaktionär. Deshalb verhinderte er zum Beispiel die Bestellung des Malers Gustav Klimt zum Professor an der Kunstakademie.
In religiösen Dingen war er intolerant und bigott. Klerikale Tendenzen prägten auch seine politischen Ansichten, die entschieden reaktionär und antidemokratisch waren. Dies hiess indes nicht, dass der Thronfolger jede Modernisierung verworfen hätte. Als Generalinspektor der Armee machte er durchaus vernünftige Vorschläge, die freilich beim alten Kaiser durchwegs auf Ablehnung stiessen.
Überhaupt war das Verhältnis zwischen dem greisen Franz Joseph I. und seinem designierten Nachfolger äusserst gespannt. Sie brachten sich gegenseitig zur Weissglut; oft schrien sie einander an, bis der Kaiser die Diskussion mit einem kategorischen «Solange ich lebe, regiere ich!» beendete. Der Thronfolger, in dieser Hinsicht ein habsburgischer Prinz Charles, wartete ungeduldig fast zwei Jahrzehnte lang auf das Ableben des Alten, der jedoch zäh weiterlebte und – regierte.
Franz Ferdinand bildete mit seinen Beratern eine Art Schattenregierung, die ehrgeizige Pläne für die Zukunft der morschen Monarchie entwickelte. Er war ein Gegner des ungarischen Ausgleichs und trat zumindest zeitweise für eine stärkere Einbeziehung der slawischen Nationalitäten ein, den sogenannten Trialismus. Aus diesem Grund wird er oft als Reformer gesehen, der den Zerfall des Vielvölkerstaats hätte aufhalten können und dessen Ermordung den Untergang beschleunigte.
Für die deutsche Historikerin Alma Hannig ist das nur eine nachträglich fabrizierte Legende, ähnlich wie die These, in Sarajevo sei ausgerechnet jener Entscheidungsträger der Doppelmonarchie ermordet worden, der den Frieden hätte bewahren können. Franz Ferdinand, so Hannig, sei ein überzeugter Autokrat gewesen und keinesfalls ein Kriegsgegner.
Doch der unbeliebte Erzherzog hatte auch eine andere Seite: Er war ein liebevoller Gemahl und Familienvater. Sein Zerwürfnis mit dem Kaiser war nicht zuletzt deshalb so bitter, weil er dem alten Monarchen eine unstandesgemässe Heirat abgetrotzt hatte. Für seine Frau nahm Franz Ferdinand erhebliche Nachteile in Kauf: Gräfin Sophie Chotek von Chotkowa und Wognin stammte zwar aus altem böhmischem Adel, doch nicht aus einer regierenden Dynastie.
Franz Joseph stimmte nur einer morganatischen Ehe zu – dies bedeutete, dass Sophie nicht zur Erzherzogin erhoben wurde und Kinder aus der Verbindung mit Franz Ferdinand keinen Anspruch auf den Thron hatten. «Es ist merkwürdig, was für unglaubliche Begriffe in unseren höheren Gesellschaftsklassen herrschen und wie die Stimme des Herzens so gar nicht berücksichtigt wird», schrieb der Erzherzog in einem Brief. «Lieber opfert man auf dem Altare der antiquierten und lächerlichen ‹Convenienz› zahlreiche gebrochene Herzen und vernichtet Existenzen, als dass man dem Herzen freien Lauf lässt und glückliche Menschen schafft!»
Obwohl man bei Hofe die Gattin des Thronfolgers auf Schritt und Tritt an ihre nicht standesgemässe Herkunft erinnerte – so durfte sie zum Beispiel im Theater nicht in der Hofloge sitzen –, war die Ehe offenbar glücklich. Die Familie verbrachte viel Zeit auf dem Schloss Konopischt in Böhmen, das der Blumenliebhaber Franz Ferdinand mit viel Geld zu seinem Refugium ausgebaut hatte.
Nach aussen hin war Franz Ferdinand unnahbar. Der Schriftsteller Karl Kraus schrieb in seinem Nachruf auf den Erzherzog: «Er war kein Grüsser […] Auf jene unerforschte Gegend, die der Wiener sein Herz nennt, hatte er es nicht abgesehen.» Doch seiner Familie war er ein fürsorglicher Vater. Auch in Sarajevo dachte Franz Ferdinand an seine Kinder: «Umarme euch innigst. Dienstag, Papi», telegrafierte er ihnen an seinem Todestag nach Hause.