In der «NZZ am Sonntag» konnte man die Schlagzeile lesen «Klimaschutz gefährdet die Flugsicherheit». Ist sie symptomatisch für die heutige Zeit?
Julia Binder: Man hört häufig «Nachhaltigkeit, ist ja alles schön und gut und vielleicht muss man tatsächlich etwas machen, aber wir gehen einfach zu weit und wollen zu schnell zu viel». Die Wahrheit ist genau umgekehrt: Es geschieht alles viel zu langsam und viel zu wenig weitreichend. Und leider befinden wir uns sehr stark im Quick-Fix-Mindset. Wir wollen isoliert Kleinigkeiten beheben, die dann häufig irgendwelche negativen Nebeneffekte haben.
Vor einigen Jahren hatte man das Gefühl, man sei beim Klimaschutz kurz vor dem Durchbruch, und jetzt vernimmt man Begriffe wie Klimapragmatismus.
Man muss differenzieren. Damals war sehr viel Talk und sehr wenig Action. Alle sprachen darüber, tatsächlich ist recht wenig passiert. Die meisten haben exakt das getan, was sie machen mussten, sehr viel Reporting und sehr wenig echte Transformationsprozesse. Mit Begriffen wie Klimapragmatismus will man sich selbst versichern, dass man noch das Nötige tut, aber in Wirklichkeit ist es natürlich Wohlfühlrhetorik.
Da denkt man unweigerlich an Greenwashing.
Es geht sogar noch weiter. Wir sind in einer Zeit, in der nicht einmal mehr Greenwashing betrieben wird. Heute sehen wir eher das Phänomen Greenhushing. Man spricht nicht mehr darüber, dann muss man sich auch nicht rechtfertigen. Man sieht das bei grossen Emittern. Greenwashing ist fast noch alter Zeitgeist, in dem Sinne, dass Unternehmen zumindest das Gefühl hatten, grün wirken zu wollen. Heute versuchen es viele gar nicht mehr.
Sie haben kürzlich in einem Referat beim Verband Swisscleantech eine Bain-Studie erwähnt, wonach Nachhaltigkeit nicht mehr en vogue ist.
Wie gesagt, viele haben sehr viel geredet, aber was ist eigentlich passiert? Warren Buffett hat gesagt: «When the tide goes out, you see who was swimming naked.» Wir sehen jetzt, dass die meisten nackt geschwommen sind. Jetzt sieht man, wer noch «skin in the game» hat. Das sind die, die wirklich die Transformationsprozesse angestossen haben.
Was bedeutet das konkret?
Viele haben Business as usual gemacht und gleichzeitig versucht, so grün wie möglich zu wirken. Also haben sie peripher irgendwas gemacht, das häufig auch Geld kostete, weil es nicht in die Kernprodukte und Prozesse integriert war. Wer das Ganze richtig angegangen ist, hat nicht nur ein nachhaltigeres Ergebnis, sondern Effizienzsteigerungen und Kostenersparnisse erzielt. Deshalb sind jene Unternehmen, die das Thema strategisch angingen, weiter dabei.
Die Spreu hat sich vom Weizen getrennt?
Das Spannende wird sein, wie das Ganze in ein paar Jahren aussieht. Nachhaltigkeit folgt dem Hype-Zyklus, das Thema wird wieder kommen. Dann sind Firmen, die das Thema jetzt fallen lassen, extrem unglaubwürdig, wenn sie behaupten: «Wir sind jetzt super grün und meinen es wirklich ernst!» Allerdings hätte ich eigentlich sehr gerne, dass das Thema nicht mehr kommt.
Weil das Problem gelöst wäre?
Genau, aber wir werden den nächsten Gletscher sehen, der herunterkommt. Wir werden das nächste grosse Desaster erleben und dann kehrt es auf die Tagesordnung zurück. Und dann stellt sich die Frage, ob ein CEO oder ein Verwaltungsrat nur in Hype-Zyklen denkt. Wer sich so verhält, ist nicht sehr zukunftsorientiert und nicht sehr weitsichtig.
Ist das nicht ein Symptom der heutigen Wirtschaft, die auf Kurzfristigkeit und Quartalszahlen fixiert ist?
Absolut, zu 150 Prozent. Nachhaltigkeit hat noch nie ins System gepasst. Kein CEO hat den ökonomischen Anreiz, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Spannend wäre, wenn etwa der Bonus des CEO über seine Amtszeit hinweg reichen würde. Das würde Anreize schaffen, die über Nachhaltigkeit hinaus gehen. Aber heute geht es nur um drei bis zwölf Monate Zeithorizont, und da passt Nachhaltigkeit einfach nicht ins System.
Und es kommt das Grundproblem hinzu, dass die Natur kein Preisschild hat.
Das ist ein riesengrosses Problem. Grundsätzlich ist es ganz schwierig, etwas zu bepreisen, was keinen Preis hat, und auch Geld in die Hand zu nehmen. Man sieht in diesem Moment nur die Kosten. Dabei ist das CO2 nur die Spitze des Eisbergs. Man könnte das Wasser erwähnen oder auch Insekten, die wir als gegeben betrachten. Dabei müssen die Menschen in China die Obstbäume heute schon häufig von Hand bestäuben, weil sie zu wenig Bienen haben. Daran sieht man, wie viel eine Arbeit kostet, wenn sie nicht mehr einfach von der Natur übernommen wird.
Selbst die EU, die eine Art Vorreiterrolle mit dem Green Deal spielte, macht jetzt eine Rolle rückwärts.
Das ist sehr schade, aber die EU hat nicht alles richtig gemacht. Die Nachhaltigkeitsrichtlinie CSRD war nicht die ultimative Lösung aller Probleme. Grundsätzlich ist sie ein wichtiger Schritt, aber man hätte sie besser umsetzen können. Ich habe mit Unternehmen gearbeitet, die nicht verstanden haben, woher sie die notwendigen Daten bekommen sollten. Die konnten gar nicht mehr strategisch arbeiten. Und noch einmal, Reporting ändert nicht per se alles. Trotzdem ist diese komplette Rolle rückwärts furchtbar falsch.
Macht es irgendjemand besser?
Die Chinesen haben wir ganz selten auf dem Schirm, aber was sie gemacht haben, war schon ähnlich. Es kam top-down, von der Regierung, aber nicht mit der Peitsche, sondern mit Zuckerbrot. Sie definieren Zukunftsmärkte und nehmen richtig Geld in die Hand, um die Unternehmen quasi zu belohnen, wenn sie in diese Richtung gehen. Es ist eine ganz andere Logik. Und ein Mindset, das mit Businessleadern einfach besser funktioniert. Alles tot zu regulieren, ist für Innovationen nicht unbedingt hilfreich.
Gar keine Rahmenbedingungen sind auch nicht hilfreich.
Die EU war schon immer der Ort, wo man am ehesten einen Mittelweg finden kann. Aber man vergisst oft, dass es auch eine Aufbruchstimmung braucht. Das haben wir bei der Digitalisierung nicht geschafft, das schaffen wir gerade bei KI nicht. Wir verlieren viel Innovationszugkraft, weil wir etwas tot regulieren, statt Rahmenbedingungen plus Anreize zu schaffen.
Die Lieferkettenrichtlinie war mehr gut gemeint als gut gemacht?
Würde die ganze Welt mitmachen, wäre das etwas anderes. Aber in einer Wirtschaft, die von globalen Lieferketten abhängig ist, muss ich schauen, wie ich das schrittweise umsetze. Unsere Wirtschaft ist nicht dafür gemacht, über Nacht schnell irgendwas zu ändern.
Gleichzeitig leben wir in einer Art Permakrise. Pandemie und Kriege verschlingen riesige Geldsummen. Da bleibt kein Geld mehr für den Klimaschutz übrig.
Nachhaltigkeit hat das Problem, dass die richtig grossen Herausforderungen und Kosten heute nicht erkennbar sind. Die sehen wir erst nach und nach. Dadurch wird es so schwierig, dafür Geld in die Hand zu nehmen. Dabei werden wir alle dafür extrem viel Geld in die Hand nehmen müssen. Jede Wirtschaft, jedes Unternehmen, jeder Konsument. Bloss können wir das momentan noch sehr weit von uns wegschieben. Es ist die «Tragedy of the Horizons».
Wie äussert sie sich?
Wir sind nicht dafür gemacht, in solchen langen Zeiträumen zu denken. Dafür bräuchte es eine Regierung, einen Vorstand, die diesem Kurzzeitdenken etwas entgegensetzen sollten. Und leider spielen weder die einen noch die anderen ihre Rolle korrekt aus.
Das Paradebeispiel ist Donald Trump.
Wir orientieren uns in Europa sehr stark an Amerika und blenden aus, was in anderen Teilen der Welt passiert. In meinem Unterricht erlebe ich, dass Europäer und Amerikaner zur Zeit Nachhaltigkeit nicht mehr so stark priorisieren. In China, Asien und selbst im Mittleren Osten sieht es anders aus. Der Kronprinz von Saudi-Arabien hat das Thema auf die Agenda gesetzt, und jeder unserer Studenten aus der Region sagt, es sei enorm wichtig. Wir müssen weg von der Idee, dass Amerika alles vorgibt. Das mag so sein bei Digitalisierung und Innovationen, aber bei der Nachhaltigkeit war Amerika nie DER Referenzpunkt.
Der American Way of Life hat überhaupt nichts mit Nachhaltigkeit zu tun.
Natürlich nicht. Was die Amerikaner gemacht haben, war Climate Tech, etwa der frühere Elon Musk mit Tesla. Man betrachtet alles durch die Technologielinse, dabei müssten wir eigentlich die Wirtschaft neu denken.
In Ihrem Referat haben Sie gesagt, Trump besetzt die Gesternmärkte und China die Zukunftsmärkte.
Und Europa ist «lost in the middle». Dabei hätten wir ein massives Potenzial und spielen es leider überhaupt nicht aus. Im Draghi-Report war die Verbindung von Nachhaltigkeit und künstlicher Intelligenz und Digitalem mit neuen Märkten ein zentrales Thema. Aber gesprochen wurde nur über Wettbewerbsfähigkeit und Überregulierung.
In welchen Punkten sehen Sie China als Vorbild?
Bei der Energieproduktion sind die Chinesen fast nicht mehr einzuholen, weil sie die komplette Lieferkette kontrollieren. Wenn sie keine Lust mehr haben, uns zu beliefern, sind wir aufgeschmissen. Solar war gross in Deutschland, das haben wir aufgegeben. Beim Automobil ist es ähnlich. Was China gut macht, ist die Elektromobilität. BYD kann heute fast jeden europäischen Autohersteller outperformen. Laut einer Studie meines IMD-Kollegen Howard Yu ist BYD das Unternehmen, das am ehesten «future ready» ist. Auch bei der Kreislaufwirtschaft sind die Chinesen stark. Sie ist in der Strategie des Landes verankert.
Das ist einfach in einem Land, in dem die Regierung alles bestimmt.
In Ländern, in denen die Regierung starken Einfluss ausübt, wie China oder Saudi-Arabien, kann Nachhaltigkeit theoretisch sehr schnell umgesetzt werden. Und wir sind sehr stark in einer Kultur des Dagegenhaltens. Wenn die das sagen, mache ich es erst recht nicht. Vereinfacht gesagt, orientieren sich die Chinesen an Opportunitäten, während wir auf Risiken fixiert sind. China denkt an Wachstumsmärkte, Chancen, Zukunftsmärkte. Dieses Framing ist uns bisher nicht gelungen.
Bei uns kommt der Widerstand jener Kreise hinzu, die sich an den fossilen Lebensstil klammern.
Es ist dieses kurzfristige Denken, das wir in der Wirtschaft haben, aber leider auch in der Politik. Sie hält Industrien künstlich am Leben, weil sie Jobs retten und Wahlen gewinnen will. Wir haben sehr wenige Politiker, die sagen, es geht nicht um mich, es geht um die Sache, und wie setze ich die richtigen Anreize. Das ist schade, denn wir schiessen uns ins eigene Bein. Eine tote Industrie am Leben zu erhalten, davon haben wir mittelfristig nichts.
Oder man klammert sich an Technologien wie Climeworks, bei denen sich die Frage stellt, ob sie jemals rentabel sein werden.
Wir brauchen beides, Eindämmung und Anpassung. Die Gefahr besteht jedoch darin, dass man glaubt, man könne so weitermachen, und irgendwann wird irgendjemand irgendeine Technologie entwickeln. Es ist nicht so, dass ich nicht technologisch optimistisch bin. Ich war an der ETH Lausanne und habe Tech4Impact geleitet. Da ist ganz viel Potenzial. Aber wir haben systemische Probleme. Technologien sind immer linear, sie werden niemals dieses komplexe Problem als solches lösen. Auch wir als Gesellschaft sind in unserem Denken sehr linear.
Wie äussert sich das?
Wir sind nicht darauf trainiert, systemisch zu denken, weder in der Schule, noch an der Universität, noch in unserem Mindset. Wir sehen eine tolle Technologie und finden, ha, Elektromobilität, Problem erledigt. Betrachtet man auch die Ressourcen, die auf diese Weise in den Individualverkehr hineingehen, ist es gar nicht erledigt mit der Elektromobilität.
Sehen Sie trotzdem irgendeinen Lichtblick?
Ich mache gerade sehr viel im Bereich Kreislaufwirtschaft. Und es gibt viele Unternehmen, die schon so viel investiert haben, dass sie keinen Schritt zur Seite weichen. Im Gegenteil, sie werden eher noch mehr Geld in die Hand nehmen und sagen, gut, dann machen wir es jetzt alleine. Es gibt viele Unternehmen, die das stark vorantreiben.
Woran machen Sie das fest?
Durch die Ressourcenabhängigkeit und die globale Lieferkette, die gerade stark ins Wanken gerät, orientieren sich Unternehmen um. Wenn die Chinesen gewisse Metalle nicht mehr liefern, ist dies ein enormer Weckruf. Wir sehen, dass globale Lieferketten eben doch Risiken haben. Da bietet gerade die Kreislaufwirtschaft eine sehr gute Antwort, um ressourceneffizienter und nachhaltiger zu agieren.
Und wir als Individuen? Werden wir erst durch Schaden klug, etwa die zunehmenden Katastrophen in Form von Starkregen, Überschwemmungen, Erdrutschen?
Wir sind da auch ein wenig blind. Sie kennen vielleicht den Film «Don't Look Up» auf Netflix?
Ja, natürlich.
Er war sehr stilisiert, aber es geht genau in diese Richtung. Ich war auf Korsika und erlebte einen Waldbrand. Und dann standen die Touristen im Meer und haben geplanscht und Fotos von sich und dem Waldbrand gemacht. Da fragt man sich schon, wie viele Katastrophen es braucht, bis wir aufwachen. Es werden sehr viele Menschen leiden. Ob und wann die Wirtschaft, ob die Gesellschaft davon aufwacht? Das wird man sehen, das ist die grosse Frage. Eigentlich haben wir alle Technologien und das Wissen, damit die grosse Transformation gelingen kann. Jetzt müssen wir es «nur» noch wollen!